Peter Keller: "Die Wehrmacht der Deutschen Republik ist die Reichswehr". Die deutsche Armee 1918-1921 (= Krieg in der Geschichte (KRiG); Bd. 82), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2014, 310 S., ISBN 978-3-506-77969-4, EUR 39,90
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Peter Keller hat kein gewichtiges Buch vorgelegt, dafür aber ein sehr wichtiges. Denn die Militärgeschichte der Weimarer Republik wird von deutschen Historikern immer noch stiefmütterlich behandelt, wie zuletzt der Rezensent in der Festschrift für Bernhard Kroener feststellte. [1] Kellers Dissertation untersucht die verworrene Zeit nach der unerwarteten Niederlage des Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg und den Kampf der jungen Republik um ihr Gewaltmonopol. Ihr programmatischer Titel, den schon Michael Geyer 1973 in seinem unerwähnten Literaturbericht über die Geschichte der Streitkräfte der Weimarer Republik verwandte [2], ist identisch mit dem ersten Satz des Wehrgesetzes vom 23. März 1921. Und doch ist der Titel nicht ganz zutreffend, denn Kellers eigentliches Untersuchungsfeld ist die schwierige Phase davor, in der es nach den Gesetzen vom 6. März bzw. 16. April 1919 sogar zwei legitime staatliche Waffenträger gab, eine "vorläufige Reichswehr", also vor allem das Heer, und eine "vorläufige Reichsmarine". Beide von der Nationalversammlung verabschiedeten Gesetze sollten nur bis Ende März 1920 gelten.
Strukturelle Schwierigkeiten bei der Demobilmachung des Übergangsheeres, das Mitte Juni 1919 noch eine Iststärke von 545.000 Soldaten aufwies, auf die in Versailles verordnete Höchstgrenze von 100.000 sowie zwei einschneidende politische Ereignisse, der Kapp-Lüttwitz-Putsch von rechts und der Ruhraufstand von links, erzwangen eine einjährige Verlängerung. Schon Ende Dezember 1920 hatten Reichspräsident Ebert, Reichswehrminister Geßler und der neue Chef der Heeresleitung von Seeckt den Aufbau der neuen Wehrmacht für vollendet erklärt. Doch das war verfrüht. Die eigentliche Reichswehr, die professionelle "Wehrmacht der deutschen Republik", unterteilt in Reichsheer (100.000 Mann) und Reichsmarine (15.000 Mann), erblickte dann zwar am 23. März 1921 das Licht der Welt, als der im Frühjahr 1920 gewählte Reichstag das betreffende Wehrgesetz nach dritter Lesung mit überwältigender Mehrheit verabschiedet und veröffentlicht hatte. Aber der durch Revolution und Kriegsende 1918 in Gang gesetzte militärische Umwandlungsprozess konnte erst Mitte Juni 1921 als abgeschlossen gelten. Alliierter Einspruch hatte nämlich eine Revision des Wehrgesetzes notwendig gemacht.
Peter Kellers Untersuchung konzentriert sich auf die "deutsche Armee 1918-1921". Dieser lapidare Untertitel ist ein intentionaler Euphemismus für das unübersichtliche Konglomerat von Volkswehren, Freikorps, Restformationen des alten Heeres und neu angeworbenen Freiwilligen, das ab Anfang März 1919 unter dem Begriff "vorläufige Reichswehr" firmierte. Sie sollte laut Artikel 1 die Reichsgrenzen schützen, den Anordnungen der Reichsregierung Geltung verschaffen und die Ruhe und Ordnung im Innern aufrechterhalten. Für seine militärgeschichtliche Studie hat der Autor neben drei Leitgedanken - Ergebnisoffenheit, Handlungsrationalität, Auswirkungen auf die spätere Zeit - drei Stoßrichtungen formuliert: Welche Motive lagen der engen Zusammenarbeit zwischen republikanischer Regierung und bewaffneter Macht zugrunde? Wie sahen die Führungs- und Befehlsstrukturen zwischen 1918 und 1921 aus? Und glaubte die Armeeführung, von dem politischen Bündnis mit der Republik militärisch profitieren zu können? Um die komplexe Frage beantworten zu können, warum das Einvernehmen zwischen politischen und militärischen Entscheidungsträgern infolge des Kapp-Lüttwitz-Putsches zerbrach, benutzt Keller im siebten Kapitel alle drei Zugriffe gleichermaßen.
In seiner kurzen, in sieben Punkte gegliederten Bilanz kommt der Autor zu folgenden Ergebnissen: Der "Ebert-Groener-Pakt", also die einvernehmliche Zusammenarbeit der neuen Regierenden und der alten Obersten Heeresleitung, erwuchs aus der revolutionären Notlage des November 1918. Er stand "im Zeichen eines in der damaligen Gesellschaft weitgehend konsensfähigen 'Primats der Sicherheit'" (282). Auch die ersten Nachkriegsformationen, Freikorps und Volkswehren, werden entgegen etablierten Narrativen als Ergebnis des Zusammenspiels von politischen und militärischen Entscheidungsträgern gedeutet. Das militärische Vorgehen dieser Regierungstruppen im Reich entsprach nicht pauschal dem einer "blutrünstig, enthemmt kämpfenden Soldateska", sondern folgte auch der Strategie einer kontrollierten Abschreckung und "Rücksichtnahme auf die politischen Bündnispartner in Reich und Bundesstaaten" (283). Der im Frühjahr 1919 entstehenden "vorläufigen Reichswehr" spricht Keller nicht die Möglichkeit ab, sich fest in das Gefüge des neuen republikanischen Staatswesens integrieren zu können. Schon die eigene personelle und materielle Beschränktheit erforderten ein Zugehen auf die als zuverlässig eingeschätzten politischen Kräfte, dazu zählte auch die regierende SPD. Die harten Bedingungen des Versailler Vertrags, die schon Anfang Mai 1919 bekannt geworden waren, und die Meuterei der Freikorps im Baltikum stellten die Loyalität der auf die Reichsverfassung vereidigten Soldaten in der zweiten Jahreshälfte 1919 auf eine schwere Probe. Außerdem fühlten sie sich trotz ihres schweren Dienstes für die Aufrechthaltung des inneren Friedens von der Allgemeinheit ungenügend gewürdigt. Den Kapp-Lüttwitz-Putsch vom März 1920 wertet Keller zum Schluss als eine entscheidende Zäsur. Zusammen mit der unglücklichen Operation zur Niederwerfung des Ruhraufstands habe er zu einer Entfremdung von bewaffneter Macht und demokratischem Staat geführt. Insofern sei es General von Seeckt äußert leicht gefallen, "seine Vorstellungen von einem unpolitischen Waffenträger vollumfänglich durchzusetzen" (284).
Peter Keller, ein Schüler von Andreas Wirsching und Günther Kronenbitter, hat, wie schon gesagt, eine wichtige Untersuchung über eine vernachlässigte Phase der jüngeren deutschen Militärgeschichte vorgelegt. Sie basiert lobenswerterweise auf einer großen Anzahl unveröffentlichter Quellen aus vier Landesarchiven und dem Bundesarchiv. Karten und Organigramme hätten das organisationsgeschichtlich angelegte zweite Kapitel für den interessierten Leser anschaulicher gemacht. Schwer tut sich der Autor mit seiner Bewertung der Person und Rolle von Hans von Seeckt, dem prominentesten General der Reichswehr. Was war er nun: undurchsichtig, attentistisch oder verfassungsloyal? Nach dem Kapp-Lüttwitz-Putsch äußerte sich der Chef der Heeresleitung klar und deutlich in seinem Erlass an das Offizierkorps vom 18. April 1920. Zu einer "hellen Zukunft" für das "neue Haus" der Reichswehr als Teil des Volkes und stärkste Stütze des Staates jenseits von Versailles gehörten für Seeckt neben "Wertvollem aus der Vergangenheit" und Verfassungstreue Gehorsam, Disziplin und Professionalität. Dabei fragte Seeckt nicht nach der "politischen Färbung" des einzelnen Offiziers. Was er auf keinen Fall mehr dulden wollte, waren parteipolitische Kämpfe innerhalb der Reichswehr oder gar "hochverräterische Bestrebungen". Konnte man von einem adligen Gardeoffizier, dem der "starke Schild" des preußischen Königs und die allgemeine Wehrpflicht, "die jedem Deutschen in Fleisch und Blut übergegangene Wehrverfassung", fehlten, mehr erwarten? Natürlich hätte Seeckt gerne statt des ihm vorgesetzten, schwachen Reichswehrministers Geßler die Befehlsgewalt über das Reichsheer ausgeübt und damit die gesamte Reichswehr dominiert. Aber als sich ihm im Krisenjahr 1923/24 die Chance zu einer Militärdiktatur bot, kämpfte er für die Autorität der Reichsregierung und gab die ihm übertragene vollziehende Gewalt im Reich zurück in die Hände der politischen Führung der Republik.
Anmerkungen:
[1] Jürgen Förster: Weimar's Wehrmacht and its Critics, 1919-1955, in: Das ist Militärgeschichte! Probleme - Projekte - Perspektiven, hgg. von Christian Th. Müller / Matthias Rogg, Paderborn u.a. 2013, 122-132.
[2] Vgl. Michael Geyer: Die Wehrmacht der Deutschen Republik ist die Reichswehr. Bemerkungen zur neueren Literatur, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 14 (1973), 152-199.
Jürgen Förster