Rezension über:

Alexander Donges: Die Vereinigte Stahlwerke AG im Nationalsozialismus. Konzernpolitik zwischen Marktwirtschaft und Staatswirtschaft (= Familie - Unternehmen - Öffentlichkeit. Thyssen im 20. Jahrhundert; Bd. 1), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2014, 440 S., 30 Grafiken, 60 Tabellen, ISBN 978-3-506-76628-1, EUR 49,90
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Rezension von:
Tobias Birken
München
Empfohlene Zitierweise:
Tobias Birken: Rezension von: Alexander Donges: Die Vereinigte Stahlwerke AG im Nationalsozialismus. Konzernpolitik zwischen Marktwirtschaft und Staatswirtschaft, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 1 [15.01.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/01/25758.html


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Alexander Donges: Die Vereinigte Stahlwerke AG im Nationalsozialismus

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Die Dissertation von Alexander Donges ist Teil des Forschungsprojekts "Unternehmerfamilie Thyssen im 20. Jahrhundert". Der Thyssen-Konzern gehörte zu den deutschen Montanunternehmen, die 1926 essentielle Teile ihrer Produktion zur Vereinigten Stahlwerke AG (Vestag) zusammenschlossen. Dieser "Stahl-Trust" zählte zu den größten Stahlkonzernen weltweit und war zudem Rüstungsproduzent. Entsprechend wichtig war seine Rolle für die nationalsozialistische Kriegswirtschaft.

Donges beleuchtet in seiner Arbeit die Entwicklung der Vestag zwischen 1933 und 1945. "Den Rahmen bilden die Fragen, inwieweit die Unternehmenspolitik im Wirtschaftssystem des 'Dritten Reichs' den veränderten wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen angepasst werden musste und in welchem Maße staatliche Akteure die strategischen Entscheidungen der Konzernleitung beeinflussen konnten." (16) Dabei geht es ihm nicht nur um konkrete staatliche Eingriffe, sondern auch um die "Auswirkungen gesamtwirtschaftlicher Lenkungsmaßnahmen" (17). Im Vordergrund steht die Entwicklung des Gesamtkonzerns; wenn der Darstellung mehr Tiefe gegeben werden soll, rücken die Konzerntöchter in den Fokus. Die betriebliche Seite wird ausgeklammert.

Der Autor knüpft mit seiner Monografie an die Forschungskontroverse zwischen Christoph Buchheim und Jonas Scherner sowie Peter Hayes (18) über unternehmerische Handlungsspielräume im "Dritten Reich" an. Buchheim und Scherner sahen die Privatunternehmen durch das NS-Regime weit weniger beeinträchtigt als dies Hayes annimmt. Die Untersuchung der Vestag soll in dieser wirtschaftshistorischen Kontroverse als Fallstudie dienen und zugleich eine Forschungslücke schließen. Eine der wenigen Arbeiten, die sich mit diesem Thema beschäftigt, ist die 1988 erschienene Studie von Gerhard Mollin über die deutschen Montankonzerne [1]; daran arbeitet sich Donges immer wieder ab. Mollin untersuchte die Vestag sowie die 1937 gegründeten Reichswerke "Hermann Göring". Er sah die Vestag staatlichen Eingriffen und Zwängen zugunsten der Reichswerke ausgesetzt. Dank dieser Restriktionen hätte sich der Staatskonzern zu einem riesigen Unternehmenskomplex entwickeln können.

Donges' Buch gliedert sich in drei Teile: Teil A behandelt den Zeitraum zwischen 1933 und 1939. Die einzelnen Kapitel beschäftigen sich mit der Unternehmensführung unter dem Einfluss des Staats, der Konzernstruktur und der Rüstungskonjunktur, der Investitionspolitik in einer staatlich gelenkten Marktwirtschaft sowie dem Konflikt mit dem NS-Staat, präziser: dem Konflikt zwischen der Vestag und den Reichswerken "Hermann Göring". Teil B umfasst die Jahre 1939/40 bis 1944/45 und thematisiert vor allem die Machtverschiebung und die Expansionsstrategien in der Kriegswirtschaft. Teil C liefert das Resümee der vorangegangenen Kapitel.

Durchwegs strukturiert schildert Donges die Geschichte des Konzerns in seinen wirtschaftlichen Aspekten. So geht es beispielsweise um Corporate Governance, um Autarkieinvestitionen im Steinkohlebergbau oder um die Expansion in den besetzten Gebieten. Unterfüttert werden diese Ausführungen mit zahlreichen Tabellen und Diagrammen. An vielen Stellen liefert er neue Bewertungen, etwa was die Gründung der Gelsenberg AG durch die Vestag oder die Vestag als Rüstungsbetrieb betrifft: Für Donges wurde die Gelsenberg AG, die den Einstieg der Vestag in die Treibstofferzeugung bedeutete, weder aus direktem noch aus indirektem Zwang gegründet. Vielmehr sei davon auszugehen, "dass die Investition unternehmerisch motiviert war" (177). Die in der Forschung geläufige Einschätzung der Vestag als Roheisen- und Rohstahlproduzent korrigiert er: "Unter Berücksichtigung des gesamten Spektrums der im Konzern vertretenen Rüstungsbetriebe zählt die Vestag spätestens ab Kriegsbeginn zu den führenden deutschen Rüstungsunternehmen." (206)

Wichtig ist Donges die Einschätzung der Reichswerke "Hermann Göring": Diese sind für ihn weder eine direkte Reaktion auf einen Mangel an Eisenerz noch ein Angriff auf die Privatindustrie beziehungsweise die Vestag: "Die Absicht hinter dem Hüttenwerk in Salzgitter, das den Kern der Reichswerke bildete, war eine militärische. Die Privatindustrie hätte sich weder dazu bereit erklärt, noch wäre sie finanziell in der Lage gewesen, ein derartiges Projekt zu realisieren. Insofern zog die Reichsregierung eine privatwirtschaftliche Lösung nie in Betracht." (287) Donges stellt ferner die freiwillige Beteiligung der Vestag an den Reichswerken heraus und erkennt in der Übernahme der Bergbau AG Ewald-König Ludwig durch den Staatskonzern kein gezieltes Vorgehen gegen die Vestag.

Für ihn agierten die Betriebsgesellschaften der Vestag immer in erster Linie aus unternehmerischen Motiven. Die "Dominanz des Gewinnmotivs" lässt sich seiner Meinung nach nicht widerlegen (403). Die nationalsozialistischen Marktrestriktionen und Lenkungsmaßnahmen bildeten ein System, das keine völlige Handlungsfreiheit, wohl aber Spielräume bot (404). Direkte staatliche Zwangsmaßnahmen gegen die Vestag gab es, mit Ausnahme der Enteignung der Eisenerz-Vorkommen in Salzgitter, nicht (402). Grundsätzlich agierte der Konzern in diesem Rahmen im Interesse des NS-Regimes. Aber Donges relativiert: "Somit können die Entscheidungen der Konzernleitung entweder als Reaktion auf die gegebenen Rahmenbedingungen oder als Ergebnis indirekten Zwangs angesehen werden. Eine objektive Bewertung ist hier kaum möglich, vielmehr hängt das Ergebnis stark von der Sichtweise des Betrachters ab." (404)

Donges schließt mit seiner Monografie eine Lücke in der Forschung und bereichert die geschichtswissenschaftliche Debatte. Seine Argumentation ist überzeugend und sein Resümee bietet einen guten Ausgangspunkt für weitere Arbeiten. Auch auf neue oder bisher in der Forschungsliteratur kaum beachtete Aspekte macht er aufmerksam.

Es verwundert, dass die Zwangsarbeit in einer Studie über die Vestag im Nationalsozialismus kaum Erwähnung findet. Das Thema wird, mit Hinweis auf andere Studien aus dem Projekt [2], nur am Rande behandelt. Donges erläutert lediglich auf vier Seiten die Auswirkungen des Arbeitskräftemangels und den Einsatz von Zwangsarbeitern. Sehr ärgerlich ist das katastrophale Lektorat: Rechtschreibfehler, Doppelungen und grammatikalisch unvollständige Sätze häufen sich - vor allem im ersten Teil. Auch einige Tabellen sind nicht fehlerfrei: Schreib-, Rundungs- und Rechenfehler beeinträchtigen die vom Autor erstellten Aufschlüsselungen und Übersichten. Insgesamt hat Alexander Donges dennoch ein beachtenswertes Buch vorgelegt, das einen konstruktiven Beitrag zur Forschungskontroverse über unternehmerische Handlungsspielräume im nationalsozialistischen Wirtschaftssystem leistet.


Anmerkungen:

[1] Gerhard Th. Mollin: Montankonzerne im "Dritten Reich". Der Gegensatz zwischen Montanindustrie und Befehlswirtschaft in der deutschen Rüstung und Expansion 1936-1944, Göttingen 1988.

[2] Thomas Urban: Zwangsarbeit bei Thyssen. "Stahlverein" und "Baron-Konzern" im Zweiten Weltkrieg, Paderborn u.a. 2014.

Tobias Birken