Rezension über:

Pavel Poljan : Svitki iz pepla. Evresjkaja "zonderkomando" v Aušvice-Birkenau i ee letopiscy. Rukopisi, najdennye v peple u pečej Osvencima (Z. Gradovskij, L. Langfus, Z. Levental‘, Ch. German, M. Nadžari i A. Levite). [Die Schriftrollen aus der Asche: Das jüdische "Sonderkommando" im KZ Auschwitz-Birkenau und ihre Chronisten. Die Handschriften, gefunden in der Asche vor den Auschwitz-Öfen], Moskau: Feniks 2013, 558 S., ISBN 978-5-222-22090-0, EUR 29,95
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Rezension von:
Peter Kaiser
Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg/Brsg.
Empfohlene Zitierweise:
Peter Kaiser: Rezension von: Pavel Poljan : Svitki iz pepla. Evresjkaja "zonderkomando" v Aušvice-Birkenau i ee letopiscy. Rukopisi, najdennye v peple u pečej Osvencima (Z. Gradovskij, L. Langfus, Z. Levental‘, Ch. German, M. Nadžari i A. Levite). [Die Schriftrollen aus der Asche: Das jüdische "Sonderkommando" im KZ Auschwitz-Birkenau und ihre Chronisten. Die Handschriften, gefunden in der Asche vor den Auschwitz-Öfen], Moskau: Feniks 2013, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 1 [15.01.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/01/26201.html


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Pavel Poljan : Svitki iz pepla. Evresjkaja "zonderkomando" v Aušvice-Birkenau i ee letopiscy. Rukopisi, najdennye v peple u pečej Osvencima (Z. Gradovskij, L. Langfus, Z. Levental‘, Ch. German, M. Nadžari i A. Levite)

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"Ich schreibe diese Zeilen im Augenblick höchster Erregung und Gefahr. Die Zukunft soll ihr Urteil über uns anhand meiner Notizen fällen und die Welt soll darin zumindest einen Tropfen dieses schrecklichen tragischen Lichts des Todes erblicken, in dem wir gelebt haben". Mit diesen Worten, die er am 6. September 1944 ans Ende seines "Briefes aus der Hölle" setzte, beendete Salmen Gradowski, Mitglied des "Sonderkommandos KZ Auschwitz-Birkenau", seine Tätigkeit als dessen Chronist. Knapp einen Monat später fiel er in einem ungleichen Kampf mit den SS-Einheiten, die in die Todeslager einrückten, um den Aufstand der jüdischen Häftlinge gewaltsam niederzuschlagen. Aber es gelang ihm, kurz zuvor seine Notizen in einem Loch in der Nähe des Krematoriums IV in Birkenau zusammen mit der Asche der ermordeten Landsleute zu vergraben, wo sie wenige Wochen nach der Befreiung des Todeslagers durch die Einheiten der Roten Armee von Shlomo Dragon, einem der wenigen Überlebenden von Auschwitz, gefunden wurden.

Das Bild einer kleinen deutschen Feldflasche, in der Gradowski seine Erinnerungen versteckte, die mitten in der Asche zahlloser ermordeter Juden lag, prägt sich unauslöschlich jedem ins Gedächtnis, der Gradowskis Notizen gelesen hat. Das Gleiche kann man auch von dem neuen Buch des russischen Historikers Pavel Polian sagen, das passenderweise "Die Schriftrollen aus der Asche" (russ. Svitki iz pepla) heißt und die Geschichte des berüchtigten "Sonderkommandos KZ Auschwitz-Birkenau" zum Gegenstand hat. Auch wenn das Thema "jüdisches Sonderkommando" im Westen seit langem das Interesse der Forschung geweckt und zahlreiche Publikationen nach sich gezogen hat [1], blieb es in Russland unerforscht und von der Geschichtswissenschaft eher unbeachtet. Diese Lücke schließt jetzt Pavel Polian, der in seiner Arbeit die mehrsprachigen Quellen und Sekundärliteratur zu einer Einheit zusammengefügt hat, wie sie in der russischsprachigen Literatur zum Thema Shoa ihresgleichen sucht.

Das Buch besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil, das als "Das Leben in der Hölle" überschrieben ist, wird die Geschichte des Todeslagers Auschwitz geschildert. Dabei steht nicht nur die "Statistik des Todes" im Mittelpunkt der als eine notwendige Einleitung zum zweiten Teil konzipierten Rückschau auf dieses Anus Mundi (so der SS-Arzt E. Kremer), sondern der Verfasser geht auch der Frage nach, was die Alliierten von Auschwitz wussten und wieso sie es vorzogen, nicht darüber zu reden; unter Einbeziehung von bis jetzt wenig bekanntem Archivmaterial erzählt er die Geschichte der Befreiung des Todeslagers durch die Rote Armee und die bereits damals praktizierte ideologisch bedingte Verschweigung der besonderen "ethnischen Komponente" von Auschwitz, bei der man es vorzog, allgemein von den "Bürgern der UdSSR" als Opfern des Nazi-Terrors zu sprechen und nicht von Juden als einer besonders betroffenen Gruppe. Die Geschichte des "jüdischen Sonderkommandos" selbst, die detailliert, aber nicht detailversessen geschildert wird, ist vor allem deswegen interessant, weil der Verfasser auch die, vor allem in Israel immer noch kontrovers diskutierte Frage nach der Wahrnehmung des "jüdischen Sonderkommandos" nicht ausspart ebenso wie der ähnlicher, von der Gestapo ins Leben gerufener "Institutionen", deren Ziel darin bestand, Juden zur Mithilfe bei der Vernichtung anderer Juden zu zwingen. Das "Kainsmal" der "Verräter" und "Mittäter am Genozid des eigenen Volkes", das bis jetzt auf den Stirnen dieser Menschen haftet, wird vom Verfasser hinterfragt und Schritt für Schritt anhand von reichem Quellenmaterial als eine falsche und der tatsächlichen Situation der Häftlinge nicht gerechte Sichtweise entkräftet.

Im zweiten Teil der Arbeit geht es um den eigentlichen Kern - um die "Handschriften aus der Asche". Jedem der Texte - insgesamt sind es sechs - ist eine Einleitung vorangestellt, in der die dramatischen Geschichten der Auffindung der Handschriften, deren Veröffentlichung und Edition geschildert werden. Exemplarisch soll an dieser Stelle das Schicksal der Notizen des bereits erwähnten Salmen Gradowski näher betrachtet werden. Von den Vertretern einer sowjetischen "Sonderkommission" mithilfe des Shlomo Dragon entdeckt, blieben die Notizen Gradowskis nicht weniger als sechzig Jahre auf den Regalen des Militärmedizinischen Museums der Sowjetarmee liegen, vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen. Die Geschichte des Bekanntwerdens von Gradowskis Hinterlassenschaft, die erst durch den mutigen Akt eines der Mitarbeiter des Museums möglich wurde, wird vom Verfasser genauso anschaulich geschildert wie deren Veröffentlichung, die zuerst in Polen geschah und zu einigen vom polnischen Zensor veranlassten Abänderungen des Textes führte. Alle antipolnischen Zitate Gradowskis wie z.B. seine Bemerkung über Polen als "buchstäblich zoologische Antisemiten", die mit einem geheuchelten Mitleid, aber mit einer innerlich "kaum verhohlenen Freude" die Meldungen über die Verhaftungen und Deportationen von Juden wahrnahmen, wurden sorgsam entfernt. In dieser entstellten Form wurde der Text dann in alle wichtigen Sprachen übersetzt und bis zuletzt in dieser entstellten Gestalt von der Forschung rezipiert. Jetzt erst wurde Gradowskis Text in mühsamer Arbeit vollständig und ohne politisch motivierte Lakunen vom jiddischen Original ins Russische übersetzt, auch dies ein Verdienst Pavel Polians, der die Übersetzungen initiierte und redigierte.

Interessant ist das Buch nicht nur aufgrund der sorgfältigen Zusammensetzung und Neuübersetzung von Schlüsseltexten sowie der Erzählung über den schwierigen Weg, den diese "Zeugnisse des Grauens" von ihrer Aufdeckung bis zur Veröffentlichung gegangen sind, sondern auch aufgrund des umfangreichen Komplementärmaterials, das deren Einordnung in den größeren Kontext erst ermöglicht. Dazu zählen vor allem die erstmals veröffentlichten Dokumente der sowjetischen "Sonderkommission zur Aufdeckung und Dokumentation von nazistischen Verbrechen", die in einer trockenen Bürokratensprache den Schrecken des von den Befreiern entdeckten "Herzens der Hölle" (Salman Gradowski) schildern. Sorgfältig aufgezählt werden die gefundenen Gegenstände - Kinderkleidung, Teppiche, Zahnbürsten, Matratzen usw., ebenso wie 293 Säcke, die zu je 20 kg mit menschlichen Haaren gefüllt waren. Es werden Tabellen aufgestellt, in denen die Arbeitsaufteilung der Häftlinge dokumentiert und die Wirkung des "Zyklon B" analysiert und geschildert wird. Die menschenverachtenden Techniken des Tötens wurden von der sowjetischen Propaganda nicht verheimlicht, die Nationalität der wichtigsten Opfergruppe dagegen schon.

Umso wichtiger ist es, dass jetzt, nach dem Wegfall der ideologischen Beschränkungen, das Buch von Pavel Polian, das er vor Kurzem in einem Interview als sein wichtigstes bezeichnete, einem breiten Leserkreis zugänglich gemacht wird. Es wäre zu wünschen, dass auch des Russischen nicht Kundige durch Übersetzungen diesen Zugang erhalten.


Anmerkung:

[1] Siehe z.B. Sonja Knopp: "Wir lebten mitten im Tod". Das "Sonderkommando" in Auschwitz in schriftlichen und mündlichen Häftlingserinnerungen, Frankfurt 2009; Eric Friedler u.a.: Zeugen aus der Todeszone. Das jüdische Sonderkommando in Auschwitz, München 2005; Gideon Greif: "Wir weinten tränenlos...". Augenzeugenberichte des jüdischen "Sonderkommando" in Auschwitz, Frankfurt 1999.

Peter Kaiser