Angela Fabienne Huguenin: Hässlichkeit im Portrait. Eine Paradoxie der Renaissancemalerei (= Schriften zur Kunstgeschichte; Bd. 35), Hamburg: Verlag Dr. Kovač 2012, 582 S., 119 teilw. farbige Abb., ISBN 978-3-8300-6431-2, EUR 98,00
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Warum finden Makel, Unschönes und Abstoßendes Eingang in das Porträt des 15. und 16. Jahrhunderts? Welche Bedeutung und Funktion haben Warzen, Falten und Narben, sprich in unserer heutigen Wahrnehmung unvorteilhafte Details in der Darstellung von Gesichtern, und welche Diskrepanzen zwischen Kunsttheorie und Bildrealität sind damit verbunden? Mit Fokus auf diese Fragen präsentiert Angela Fabienne Huguenin das ausgewählte Forschungsmaterial als eine Paradoxie der Renaissancemalerei, wie bereits der Untertitel anzeigt. Mit der Behandlung der Hässlichkeit betritt die Autorin ein Feld, das, obschon weitreichend philosophisch und ästhetisch reflektiert, in der kunsthistorischen Renaissance-Forschung bislang noch nicht einer historisch-systematischen Untersuchung unterzogen wurde.
Forschungsgegenstand der vorbildlich recherchierten Studie sind die ersten autonomen Porträts, die seit dem frühen 15. Jahrhundert in den Kunstzentren Flandern, Burgund, Frankreich, Italien, den Niederlanden und Deutschland entstanden sind. Die kritische Reflektion der in der Kunstgeschichte traditionell verankerten Idee von der Bindung der Renaissance-Malerei an Konzepte des Schönen und ihre Vermeidung des Begriffes "hässlich" stellt die Autorin in kluger Weise an: Sie lenkt den Blick nicht nur auf Porträts, deren Herausstellung von Makeln signifikant ist, sondern bezieht aufschlussreiches Quellenmaterial wie Briefe, Beschreibungen und Traktate in ihre Analyse ein. Die derart diskursiv angelegte Betrachtung der Wirkungsästhetik von Hässlichkeit setzt einen impliziten Betrachter als Größe der Interpretation voraus und orientiert sich entsprechend rezeptionsästhetisch: "Der Betrachter ist im Bild", wie Wolfgang Kemp in seiner gleichnamigen Publikation konstatiert hat. [1] Wie provokativ der Buchtitel Hässlichkeit im Portrait auch gemeint sein mag, er annonciert jedenfalls mehr als nur eine Ergänzung der Porträtforschung um eine vernachlässigte Kategorie. Vielmehr wird auf einer Metaebene die Geschichtsschreibung der sogenannten "Schönen Künste" mit ihren Affirmations- und Vermeidungsstrategien selbst zum zentralen Gegenstand der Untersuchung. Die Ablehnung des Unschönen resultiert aus der Verknüpfung von ästhetischen und moralischen Inhalten. Die antike Kalokagathie, die Verbindung von Schönheit mit dem Guten respektive die Betrachtung des Hässlichen als Spiegel des Bösen in der Welt, wirken hier nach.
Hilfreich ist die von der Autorin vorgenommene terminologische Differenzierung zwischen Bildnis und Porträt. Das Bildnis steht Huguenin zufolge für die menschliche Repräsentation und folgt nicht den Gesetzen eines authentischen Abbildes, während das Porträt einen direkten Bezug zu einer Person herstellt. Mit dieser Unterscheidung wird Hässlichkeit sowohl in seiner individuellen als auch in seiner überindividuellen Qualität fassbar. In der einleitenden Auseinandersetzung mit der Etymologie, den Topoi und Konstanten der Kategorie Hässlichkeit wird herausgearbeitet, dass die Topik für Schönheit besonders stark standardisierte Formulierungen aufweist, während die Topik für Hässlichkeit in größerem Maße diversifizierte und somit auch präzisere Darstellungen und Beschreibungen hervorgebracht hat (119). Dies ist ein interessanter Befund, denn bei der Betrachtung des Bildmaterials drängt sich der Verdacht auf, dass eine eindeutige Kategorisierung manches Mal zu kurz greift. Sind dieser schmallippige Charakterkopf, jener nasendominierte Griesgrämige oder die todgeweihte Alte wirklich hässlich? Bedarf es nicht vielmehr differenzierterer Begrifflichkeiten, um ihre Anmutung auf den Punkt zu bringen?
In fünf Kapiteln entfaltet die Autorin exemplarisch ihre Betrachtung des Nicht-Geschönten und des Makels. Als Einstieg dient Robert Campins wohlbekanntes Bildnis eines feisten Mannes (1425/30, Gemäldegalerie, Berlin), dessen Doppelkinn, höckrige Nase, Gesichtsfalten und hängende Unterlippe als Ausweis einer "offensichtlichen Hässlichkeit" herangezogen werden (13, 151-200). Ohne das vielfach fortgeschriebene Postulat von der Erfindung des Individuums in der Renaissance zu erneuern, erkennt Huguenin in der hier bildlich dokumentierten Hässlichkeit ein individuierendes Merkmal, das den Authentizitätscharakter des Porträts und die Wiedererkennbarkeit der dargestellten Person erhöht. Makel vermag Präsenz zu erzeugen und damit Lebendigkeit. Unvorteilhaftes und Unprätentiöses, Asymmetrie und Deformierung im Werk von Jan van Eyck folgen ähnlichen Mustern. Der Mehrwert ungeschönter Merkmale steht im Dienste der Abweichung von Schemata und Idealgesicht. Hässlichkeit wird somit zum (herrschaftlichen) Distinktionsmerkmal, wie etwa die Habsburger Unterlippe verdeutlicht. Mit der Weiterentwicklung des Porträts in Italien um 1450 bis 1500 kommt eine ganz andere Dimension ins Spiel, nämlich die Zeitlichkeit und implizierte Vergänglichkeit. Falten, Warzen, Zahnlosigkeit und hohle Wangen sind die Spuren der Aporie der Zeit und stehen als pars pro toto für die alternde Person ein, wie beispielsweise die Zeichnung Dürers von seiner Mutter (Kupferstichkabinett, Berlin) zeigt. Die Auseinandersetzung Dürers mit Hässlichkeit und Schönheit folgt dabei gleichen bildimmanenten Gesetzen, es geht um die Suche nach Mittelmaß. Weisheit, Würde oder Alter, dies sind, so erläutert ein eigenes Kapitel, Lizenzen zum Hässlichen. Die Traktatliteratur des 15. und 16. Jahrhunderts indes vermittelt das Bild einer dem Schönen verpflichteten Epoche. Der Künstler wiederum hat den Spagat zwischen Individualität und Idealität auszufüllen, eine Paradoxie der Renaissancemalerei.
Obwohl sich in der Verquickung von Bildbeschreibung und Rezeptionsästhetik die "Faszination Hässlichkeit" (13) als ein vielschichtiges Phänomen entfaltet und der Leser zudem profunde Kenntnisse des Porträtdiskurses in der Kunstgeschichte vermittelt bekommt, wirft die Studie methodisch dennoch Fragezeichen auf. Die Autorin stellt die Grundthese auf, dass Hässlichkeit weniger zeitlich-kulturellen Kriterien folgt, als es zunächst scheint: Merkmale des Hässlichen seien über die Jahrhunderte nahezu konstant geblieben, sodass eine Typologie von Hässlichkeit aufgestellt werden könne. Konsequent scheint zunächst, dass im Kapitel über "Erkenntnisse aus anderen Forschungsgebieten" (132-150) die Hirnforschung und Attraktivitätsforschung zur Fundierung dieser Enthistorisierung herangezogen werden. Gemeinsam mit dem Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik Tübingen hat die Autorin ein Projekt initiiert, um Porträts nach Kategorien des Schönen und des Hässlichen beziehungsweise des Attraktiven und des Unattraktiven zu typologisieren. Zentrales Ergebnis ihrer Experimente ist die Eindeutigkeit der Urteile über hässlich und schön und die Übereinstimmung dieser Urteile mit Quellen aus der Frühen Neuzeit - Huguenins Beleg für die Existenz einer überhistorischen Gattung des "hässlichen Porträts". Die Ausbreitung des Materials mit dem Ziel, historische Bedeutung und Funktion des Hässlichen herauszuarbeiten, erfolgt auf der Basis enthistorisierter Wahrnehmungsmuster in formalästhetischen Analysen. Hätte sich die Autorin mit ihren Beobachtungen weniger auf eine Typologie des Hässlichen, weniger auf eine Polarisierung von Enthistorisierung versus Historisierung konzentriert, sondern stattdessen den historischen Index von Hässlichkeit im Bild weitreichender dargelegt, wäre sie einer differenzierten Theorie des Porträts noch einen Schritt näher gekommen.
Anmerkung:
[1] Wolfgang Kemp: Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, Berlin / Hamburg 1992.
Judith Elisabeth Weiss