Marianne Koos: Haut, Farbe und Medialität. Oberfläche im Werk von Jean-Étienne Liotard (1702-1789), München: Wilhelm Fink 2014, 440 S., 42 Farb-, 176 s/w-Abb., ISBN 978-3-7705-5687-8, EUR 79,00
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Beeindruckend gewichtig liegt das Buch in den Händen. Klappt man den festen Einband mit Schutzumschlag auf, entfaltet sich das Karminrot des Vorsatzpapiers. Auf den folgenden großformatigen Buchseiten erleichtert die variantenreiche Anordnung von Text und Bildern die Lesbarkeit. Vereinfacht wird die gleichzeitige Lektüre von Text und Endnoten durch ein schwarzes und ein rotes Lesebändchen. Wesentliche Begriffe und Namen sind in einem Register aufgeführt, sodass eine schnelle Orientierung möglich ist. In der Mitte des Buches machen Farbtafeln die Ausführungen zu Farbe und Medienspezifik im Werk Jean-Étienne Liotards (1702-1789) anschaulich. Die Gestaltung der Publikation korrespondiert mit dem bearbeiteten Thema, ihre Aufmachung wird den Fragestellungen der Arbeit gerecht.
In ihrer Habilitationsschrift zeigt Marianne Koos die Relationen zwischen der künstlerischen Selbstinszenierung Liotards und seinen kunsttheoretischen Ausführungen auf. Koos' Interpretationsansatz verbindet die Analyse unterschiedlicher Bildinhalte auf den Gemälden mit Liotards Ideal einer glatten, geschlossenen und makellosen Oberfläche des Bildes. Das Ziel der Autorin ist es, "Liotards spezifisches Bildkonzept, seine bemerkenswerte Materialsensibilität, sein eigenwilliges Pochen auf vérité in der Malerei, seine formalästhetische wie am eigenen Körper demonstrierte Originalität zu erfassen" (12).
Mit ihrem bereits im Titel benannten Fokus auf "Haut" und "Oberfläche" erweitert Koos die bisherigen Herangehensweisen an das Œuvre Liotards. Hier lag der Schwerpunkt auf der Materialsichtung sowie auf der Erstellung von Werkkatalogen. [1] Über dieses kennerschaftlich motivierte Vorgehen geht Koos hinaus, indem sie signifikante Diskurse aufzeigt, wie insbesondere die in der Zeit ähnlichen Semantisierungen der Haut und der Bildoberfläche. Ein anderer Fokus der Forschung lag bisher auf Deutungen im Kontext von kulturellen Identitätskonstruktionen und damit einhergehenden Differenzmarkierungen, wie beispielsweise Nina Trauth, Viktoria Schmidt-Linsenhoff und Mary Sheriff sie aufgezeigt haben. [2] Den repräsentationskritischen Ansatz der drei Autorinnen denkt Koos weiter, indem sie die Medienspezifik der Malerei mit den von Liotard präferierten transkulturellen Bildinhalten in Verbindung setzt.
Im ersten Teil erläutert Koos die Zusammenhänge zwischen der Produktion von Realitätseffekten im Bild und der künstlerischen Selbstinszenierung. Liotard hatte in zeitgenössischen Quellen den Beinamen "Peintre de la vérité" und taufte sich selbst in seinen Bildinschriften "Peintre turc". Wesentlich für beide Bezeichnungen ist Liotards "Freude am Detail" ("jouissance du détail"), die auch in seinem nach türkischer Mode getragenem Bart und in seinen türkischen Gewändern in Erscheinung tritt. Deutlich wird, dass diese inszenierten Hybriditäten seiner Person Liotard sowohl als Schutz auf seinen Reisen dienten als auch eine Authentisierungsstrategie für seine Bildmotive aus der Levante sind.
Der zweite Teil beleuchtet, welche Effekte der Wahrheit und der Täuschung Liotard in seinen europäischen Bildmotiven zur Ausführung bringt. Besonderes Augenmerk liegt hier auf seinen augentäuschenden trompe l'œil-Gemälden, die sein Ideal einer absoluten Mimesis reflektiert umsetzen. Bei der Diskussion von Liotards Porträts adeliger Auftraggeberinnen folgt Koos der Frage, wie Liotards Wahrheitskonzept, das in seinen Augen insbesondere an der Haut, verstanden als Oberfläche des Bildträgers, sichtbar wird, mit der im 18. Jahrhundert weit verbreiteten Praxis des Schminkens vereinbar ist.
Im letzten Teil geht Koos der Verbindung zwischen Liotards Kunstideal der makellosen und glatten Maloberfläche mit dem zeitgenössischen medizinischen Diskurs um die Pockenkrankheit nach. Von besonderer Bedeutung ist hier das künstlerische Prinzip des "point de touches", das Liotard in seinem Traité des principes et des règles de la peinture [Lyon 1781] am Bildgegenstand der Haut verdeutlicht. Seine zarten und gleichzeitig geschlossenen Oberflächen zielen, wie Koos zeigen kann, auf ein sensibles Eingehen sowohl auf den Bildgegenstand als auch auf die Materialität des Gemäldes. In Liotards Verständnis steht ihre Unberührbarkeit, vor allem die der Haut, für die Abwehrfähigkeit von entstellenden Pocken.
Für zukünftige Forschungen zum gesamten Schaffen Liotards ist Koos' Schrift auf jeden Fall das lange erwartete Standardwerk. Die material- und kenntnisreiche Studie setzt mit einem feinsinnigen und detailreichen Verständnis das Œuvre Liotards sowohl in den Kontext seiner eigenen Schriften als auch in signifikante historisch-zeitgenössische Kontexte. So verdienstvoll und innovativ der gewählte Interpretationsansatz ist, Oberfläche, Haut und Medialität in Relation zu setzen, so alleine gelassen bleibt die Leserin mit der Frage, unter welchen Prämissen der Ansatz für die Analyse von Werken anderer Künstlerinnen und Künstler genutzt werden kann.
Anmerkungen:
[1] Ausst.-Kat. Jean-Étienne Liotard, 1702-1789. Masterpieces from the Musée d'Art et d'Histoire of Genève and Swiss Private Collections, New York, The Frick Collection, Paris 2006; Marcel Roethlisberger / Renée Loche: Liotard. Catalogue, Sources et Correspondance, 2 Bde., Doornsijk 2008.
[2] Viktoria Schmidt-Linsenhoff: Liotards Bart. Transkulturelle Maskeraden der Männlichkeit, in: Mechthild Fend / Marianne Koos (Hgg.): Männlichkeit im Blick. Visuelle Inszenierungen in der Kunst seit der Frühen Neuzeit, Köln 2004, 161-180; Nina Trauth: Maske und Person. Orientalismus im Porträt des Barock, Berlin / München 2009; Mary Sheriff: The Dislocation of Jean-Étienne Liotard, called the Turkish Painter, in: dies. (ed.): Cultural Contact and the Making of European Art since the Age of Exploration, Chapel Hill 2010, 97-121.
Silke Förschler