Evanthis Hatzivassiliou: NATO and Western Perceptions of the Soviet Bloc. Alliance Analysis and Reporting, 1951-69 (= Cold War History), London / New York: Routledge 2014, XIV + 228 S., ISBN 978-0-415-74375-4, USD 128,18
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Gegenstand der Studie des an der Universität Athen lehrenden Historikers Evanthis Hatzivassiliou ist die Geschichte der Beurteilung der politischen und ökonomischen Entwicklung des Ostblocks durch zivile Analysten bei der NATO in den 1950er und 1960er Jahren. Die quellennahe Darstellung basiert auf Archivalien des NATO-Archivs sowie auf Akten des amerikanischen und des britischen Außenministeriums, die in College Park (USA) und Kew (UK) eingesehen wurden, soweit sie nicht ediert vorliegen.
Die Studie versteht sich als Beitrag zur Erforschung der Geschichte des Ost-West-Konflikts, der nordatlantischen Allianz und ihres Stellenwerts im Rahmen der Institutionalisierung ''des Westens'' nach 1945. Sie bietet Einblicke in Ergebnisse eines ''lower level part of intra-alliance political consultation'' in der NATO (1). Unterbelichtet bleiben die konkrete Arbeitsweise und vor allem die Frage nach der Relevanz des untersuchten bürokratischen Prozesses, der der maßgeblichen Ebene allianzpolitischer Konsultation, dem Nordatlantikrat, untergeordnet war.
Bei den zivilen Analysten, deren Arbeit im Zentrum der Studie steht, handelte es sich überwiegend um Diplomaten, die zeitweise zum 1951 eingerichteten International Staff (IS) im NATO-Hauptquartier abgeordnet wurden. Die Beobachtung des Ostblocks auf IS-Ebene wurde im Laufe der Zeit intensiviert und spezialisiert. Ende 1956 wurden permanente Arbeitsgruppen politischer und ökonomischer Berater eingerichtet, die entsprechende Schwerpunktanalysen erstellten. 1962 kam die Atlantic Policy Advisory Group (APAG) hinzu. Sie sollte langfristige Trends untersuchen. In der APAG kamen externe Berater zusammen, darunter Beamte der Planungsstäbe nationaler Ministerien (etwa Walt W. Rostow für das US-Außenministerium) und Wissenschaftler (wie Zbigniew Brzezinski).
Die Definition, wer aus politisch-ökonomischer NATO-Perspektive zum Ostblock gehörte, veränderte sich im Laufe der Zeit, blieb aber unklar. Im Kern ging es immer um die Sowjetunion und ihre osteuropäischen Satellitenstaaten, daneben auch bis zum sino-sowjetischen Zerwürfnis seit Anfang der 1960er Jahre um die VR China sowie um sowjetische Einflusszonen in der ''Dritten Welt''. Der Entscheidungsprozess im Kreml sei immer eine ''black box'' gewesen (7).
Eine ständige Aufgabe der zivilen Feindbeobachtung bei der NATO bestand darin, zu den beiden jährlichen Sessionen der NATO-Minister Berichte und Prognosen vorzulegen. Die Minister und ihre Stäbe sollten mit einer NATO-offiziellen Beurteilung nicht-militärischer Sachfragen versorgt werden. Diese Papiere waren das Ergebnis kompromisshafter Aushandlung unter Konsenszwang, bei der Experten diverser Verbündeter mitwirkten. Ihre Informationsgrundlage - wie generell die Informationsgrundlage für die Tätigkeit der zivilen Analysten bei der NATO - sei nationaler Provenienz gewesen und im Kern von London und Washington bereitgestellt worden. Die Weitergabe US-amerikanischer Informationen an den NATO-Apparat sei aufgrund von Misstrauen gegenüber den Verbündeten nur auf selektive Weise erfolgt. Dies habe die ''limits of NATO consultation'' genauso verdeutlicht (91) wie der strukturelle Hang zu unilateralem, unabhängig von NATO-Konsultationen erfolgendem Handeln der NATO-Partner. Letzteres sei in Washington stark ausgeprägt gewesen (204).
Wohlwollend gesehen lässt diese Kombination aus bürokratischem Zwang zu papierenen Kompromissen und eingeschränkter Informationsqualität den Wert des Kerns des Quellencorpus der Studie als wenig spektakulär erscheinen, wie auch der Autor letztlich einräumt (194 f.). Aus kritischerer Sicht stellt sich vordringlich die Grundsatzfrage, ob die Repräsentanten der NATO-Mitgliedstaaten nationalen Analysen generell einen höheren Stellenwert beimaßen als den in der NATO-Bürokratie entstandenen. Hatzivassiliou zitiert im Fazit eine Einschätzung des britischen Foreign Office, wonach die NATO-Minister höchstens die Zusammenfassungen jener NATO-Analysen zur Kenntnis nehmen würden. Der dann folgende Einspruch des Autors, im Blick auf kleinere Verbündete wie Griechenland könne man den Wert jener Papiere gar nicht überschätzen (201), erscheint nicht unplausibel, wird aber abrupt hinzugesetzt und wirkt in der Sache überzogen. Nach der Lektüre kann man das Erstellen jener Analysen innerhalb des Mikrokosmos des NATO-Apparats als ein Zahnrad im Räderwerk des alliance management ansehen. Deutlich wird aber wieder, dass der Kern dieses Geschäfts darin lag, die Glaubwürdigkeit der gegenseitigen Schutzzusage für den Verteidigungsfall unter den Bedingungen des Atomzeitalters zu erhalten. Hierzu konnten die hier untersuchten Analysen höchstens einen marginalen Beitrag leisten.
Ein interessantes Ergebnis der Studie bezieht sich auf die weit verbreitete These, dass das Imperium der Sowjetunion Ende der 1980er Jahre angesichts einer desaströsen ökonomischen Gesamtlage am Dilemma der imperialen Überdehnung zugrunde gegangen sei. Wie Hatzivassiliou zeigt, antizipierten die zivilen Experten in Diensten der NATO seit den frühen 1960er Jahren, mit welch massiven ökonomisch-sozialen Problemen das sozialistische Lager mittelfristig zu kämpfen haben würde, ohne dass sie den Kollaps des Ostblocks vorhergesehen hätten. Überhaupt scheint der Apparat wenig in der Lage gewesen zu sein, größere Entwicklungen im Ostblock abzusehen - von der Berlin-Krise bis hin zur Umsetzung der Breschnew-Doktrin in der Tschechoslowakei 1968.
Jedenfalls seien die untersuchten NATO-Analysen seit der Doppelkrise um Berlin und Kuba im Gegensatz zu einem bis Ende der 1950er Jahre vorherrschenden Ostblock-Bild (80) immer optimistischer geworden. Man nahm an, dass die Überlegenheit des Westens gegenüber dem Ostblock in materieller Hinsicht, aber auch im ideologischen Ringen um die Ordnung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zunehmen werde. Dies wurde als eine entscheidende Entwicklung angesehen (133). Bevor sich im Westen der dritte Schub der industriellen Revolution während der 1970er und 1980er Jahre vollzog, schien das Sowjetimperium schon auf wirtschaftlich tönernen Füßen zu stehen.
Überrascht diagnostizierte man 1963 eine strukturelle Abhängigkeit der Sowjetunion vom Getreideimport aus dem Westen. Die systemische Unfähigkeit und ''irrationality of the dogmatic and politically driven Soviet block economy'' (139) erschien in noch grellerem Licht, da Moskau eingeführtes Getreide wieder in Entwicklungsländer exportierte, um dort Einfluss zu gewinnen. Hinzu kamen die gewaltigen Dimensionen der expansiv angelegten Verteidigungsausgaben der Sowjetunion (182).
Im zivilen Bereich der NATO stand daher bis Ende der 1960er Jahre fest, dass diese Probleme erstens mittelfristig durchschlagen und dass sie zweitens im existierenden politisch-ökonomischen System der Ostblockstaaten unlösbar sein würden (183). Aber deswegen war das ''great game of strategy'' zwischen den NATO-Staaten und dem militärischen Koloss Sowjetunion noch längst nicht entschieden. Der Ausgang des Ost-West-Konflikts war ungewiss (196).
Hatzivassiliou hat eine lesenswerte und empirisch fundierte Spezialdarstellung vorgelegt. Sie fügt interessante Facetten zur politischen Geschichte der NATO und des Ost-West-Konflikts hinzu. Gewichtige neue Einsichten fördert sie jedoch nicht zutage, da vor allem der allianzpolitische Stellenwert der untersuchten NATO-Analysen unklar bleibt, wahrscheinlich aber als äußerst gering einzuschätzen ist.
Andreas Lutsch