Rezension über:

Jonathan M. Hall: Artifact and Artifice. Classical Archaeology and the Ancient Historian, Chicago: University of Chicago Press 2014, XVII + 258 S., div. Abb., ISBN 978-0-226-09698-8, USD 125,00
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Rezension von:
Soi Agelidis
Deutsches Archäologisches Institut - Abteilung Athen
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Soi Agelidis: Rezension von: Jonathan M. Hall: Artifact and Artifice. Classical Archaeology and the Ancient Historian, Chicago: University of Chicago Press 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 4 [15.04.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/04/25027.html


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Jonathan M. Hall: Artifact and Artifice

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Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist der Umgang der Alten Geschichte mit der Klassischen Archäologie. Das Buch ist in elf Kapitel gegliedert. Einleitend geht Hall auf die Forschungsgeschichte und auf die Frage ein, wie sich die Alte Geschichte und die Klassische Archäologie als eigenständige Wissenschaften entwickelt haben. Gleichzeitig zeigt er auf, wie sich das Verhältnis der beiden Disziplinen zueinander mit der Zeit veränderte. In den anschließenden neun Kapiteln fasst Hall dann, diachron gegliedert, anhand besonders prominenter Beispiele typische Fragen der archäologischen und althistorischen Forschung sowie Lösungsansätze zu ebenso vielen Fallbeispielen zusammen. Abschließend zieht er sein Fazit zu den Möglichkeiten und Grenzen eines Dialogs der beiden Disziplinen im Rahmen der historischen Forschung.

Sein einleitendes Kapitel (1-16) widmet Hall einer instruktiven Zusammenfassung der Geschichte von Klassischer Archäologie und Alter Geschichte. Seine Ausrichtung ist global, wobei die Schwerpunkte auf der angelsächsischen und deutschen Forschung liegen. Dabei richtet der Autor sein Augenmerk besonders auf Schlüsselmomente in der Entwicklung dieser Wissenschaften, so etwa den Erlass des Antikengesetzes durch den jungen griechischen Staat 1827 und die Gründung des Istituto di Corrispondenza Archeologica 1829 in Rom (7). Für das frühe 20. Jahrhundert hebt er Entwicklungen hervor, die eher die jeweils angewandten Methoden betreffen, so etwa die Ausrichtung der Klassischen Archäologie an der Klassischen Philologie und ihre damit einhergehende unterschiedliche Entwicklung im Vergleich etwa zur Prähistorie.

Bei der Besprechung des ersten Beispiels, des Orakels von Delphi, steht im Mittelpunkt die Wahrsagung durch Pythia und das Vorhandensein eines Erdspaltes im Heiligtum, aus dem gasartige Dämpfe entwichen (17-34). Hall thematisiert hier den Erkenntnisgewinn für die Archäologie durch geophysikalische und geologische Untersuchungen, weist aber auch darauf hin, dass letztere nicht immer Diskrepanzen zwischen dem archäologischen Befund und der literarischen Überlieferung auflösen.

Halls zweites Beispiel betrifft die Zerstörung von Eretria durch die Perser, wobei die Argumentation sich auf die Chronologie ihrer Tempel des Apollon Daphnephoros konzentriert (35-54). Hall fasst die Argumente für die verschiedenen Datierungen der Bauten zusammen und diskutiert kurz die vorgeschlagene Verbindung mit den Giebelskulpturen des Tempels des Apollon Sosianus in Rom. Was die Methoden angeht, geht Hall auf die Vorgehensweise in der Klassischen Archäologie bei der Datierung von Materialgruppen und Denkmälern sowie auf das Netz der sogenannten Fixpunkte in der absoluten Chronologie ein. Er betont dabei mit Recht die Fragilität unseres absoluten Chronologie-Systems, die man sich im Umgang mit diesen Daten immer im Bewusstsein halten sollte.

In dem nächsten Kapitel bespricht Hall sodann die Datierung des Telesterion im Heiligtum der Demeter und Kore in Eleusis, den Schwur von Plataia und den Kallias-Frieden (55-76). Anhand dieser Beispiele kommt er erneut auf die Problematik der absoluten Datierung zu sprechen und konzentriert sich auf die sehr häufig herangezogene Tradition, die Griechen hätten vor der Schlacht von Plataia geschworen, die von den Persern zerstörten Tempel nie wieder aufzubauen und sie als ewiges Mahnmal in Ruinen liegen zu lassen; erst der Friedensvertrag mit den Persern hätte dann die Voraussetzungen für die Reparatur von Heiligtümern geschaffen. Hall diskutiert die methodischen Probleme, die daraus resultieren, dass für die genannten Ereignisse des 5. Jahrhunderts v.Chr. zeitgenössische literarische Quellen fehlen, sodass ihre Historizität angezweifelt werden kann.

Im fünften Kapitel setzt sich Hall mit der Spurensuche nach Einzelpersonen der Antike anhand des archäologischen Befundes auseinander (77-95). Die literarische Überlieferung zum Prozess des Sokrates und seinem unfreiwilligen Selbstmord wurde als Basis für die Identifizierung einiger Strukturen in der antiken Agora von Athen mit dem Gefängnis des Philosophen in Verbindung gebracht. In diesem Fall ist es, wie Hall zutreffend darlegt, methodisch mehr als fragwürdig, so eng gefasste Identifizierungen vorzunehmen, bevor man ausreichend Kenntnis von der Lokalisierung, der Gestaltung und der Funktion der antiken Gefängnisse hat.

Um berühmte historische Individuen der Antike geht es auch im sechsten Kapitel: Hier diskutiert Hall unter Heranziehung der umfangreichen Forschungsliteratur zu dem Thema die Identifizierung der Königsgräber von Vergina (97-117). Ferner geht er auf die politische Relevanz der archäologischen Funde für die zeitgenössische Geschichte der Region ein, die gerade Mitteleuropäern und Amerikanern häufig so fremd und unverständlich zu sein scheint. Darüber hinaus zeigt er hier erneut die Grenzen der naturwissenschaftlichen Methoden in der Beurteilung von archäologischen Funden auf, indem er widersprüchliche Positionen referiert.

Im siebten Kapitel geht Hall der Verifizierung der Gründungsmythen Roms anhand des archäologischen Befundes auf den Grund (119-143). Er fasst zusammen, wie archäologische Zeugnisse im modernen Rom, genauer: auf dem Palatin, mit den italischen Königen und den mythischen Gründern Romulus und Remus bzw. Aeneas in Verbindung gebracht werden. In diesem Zusammenhang problematisiert er den Charakter von Mythen und unterstreicht, dass es bereits in der Antike einen Diskurs über die unterschiedlichen Versionen von Mythen gegeben hat. In seinem Fazit spricht er sich dafür aus, nicht zu versuchen, die späten literarischen Traditionen durch die materiellen Hinterlassenschaften in Rom zu bestätigen oder zu widerlegen, sondern die Schriftquellen als aitiologische Versuche späterer Zeit zu werten, die archaischen Ruinen zu verstehen (163f.).

Im achten Kapitel beschäftigt sich Hall mit der Entstehung der römischen Republik (145-165). Hierfür geht er auf die Errichtung des Tempels für Jupiter Capitolinus in Rom, die römische Monarchie und die Einrichtung des Doppelkonsulats ein. Wieder sind die Quellen zu den angeblichen Ereignissen im 6. und 5. Jahrhundert v.Chr. nicht zeitgenössisch, sondern stammen frühestens aus dem 4. Jahrhundert v.Chr. Hall unterstreicht darüber hinaus, dass die Bedeutung der Wörter "basileus" und "rex" sich nicht mit der von "König" ("king") deckt und wir daher das politische Gewicht dieser Ämter differenziert in ihrem jeweiligen historischen Umfeld beurteilen sollten. Die Genese der römischen Republik sei kein Ergebnis eines revolutionären Wechsels, sondern eines langwierigen Prozesses gewesen. Die Verknüpfung mit der Errichtung des Tempels des Jupiter Capitolinus sei daher eine eher späte "Entdeckung" gewesen.

Auch im Fall des Hauses des Augustus auf dem Palatin, dem Gegenstand des neunten Kapitels, gehen die literarische Überlieferung und der archäologische Befund in mancherlei Hinsicht auseinander (145-165). Letztendlich können, so Hall, die archäologisch fassbaren Bauphasen auf dem Palatin nicht zuverlässig mit literarisch überlieferten Ereignissen in der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts v.Chr. in Verbindung gebracht werden.

Das letzte Beispiel schließlich ist das Grab von Sankt Peter in Rom (187-206). Wieder wird hier die Entstehung von literarischen Traditionen thematisiert und die Existenz von parallelen Überlieferungen zu historischen Personen als Faktor herausgestellt, der eine Korrelation von archäologischen Denkmälern mit Individuen der Vergangenheit erschwert. Neben dem angeblichen Grab in der Nekropole im Vatikan diskutiert Hall so auch Anlagen an der Via Appia und in Jerusalem.

In einem abschließenden Kapitel fasst Hall seine Ergebnisse zusammen (207-219). Er mahnt zur steten Vorsicht in der Methodik und unterstreicht, dass das Zusammenspiel der Disziplinen am ehesten dann zuverlässige Ergebnisse hervorbringen kann, wenn die jeweilige Gruppe von Zeugnissen zunächst für sich in der eigenen Disziplin klassifiziert und ausgewertet wird. Erst dann sollten andere Quellengattungen herangezogen werden, um einen Erkenntnisgewinn zu erzielen.

Die Leistung von Hall ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Er hat seine Beispiele gut gewählt, um methodische Probleme im interdisziplinären Vorgehen deutlich zu machen. So gelingt es ihm zu zeigen, auf welche Weise die archäologische und althistorische Annäherung an die Quellen fruchtbar kombiniert werden kann. Gleichzeitig weist er auf die Notwendigkeit hin, sich intensiv und kritisch mit den Primärquellen auseinanderzusetzen und die unreflektierte Wiedergabe der modernen Rezeption zu vermeiden.

In der Gestaltung des Buches ist Hall sehr auf Anschaulichkeit bedacht. Pläne und Zeichnungen von archäologischen Überresten, Tabellen mit der übersichtlichen Gegenüberstellung von wichtigen Sachinformationen und ein Apparat am Ende eines jeden Kapitels mit den Primärquellen in englischer Übersetzung begleiten die Texte und fördern Lesefluss und Verständnis. Kurzinformationen zu antiken Autoren, ein Glossar, Bibliografie und Index stehen ebenfalls zur Verfügung.

Das vorliegende Buch bietet insbesondere Studierenden der Alten Geschichte und Klassischen Archäologie einen guten Überblick über wichtige Funde und ihre historische Einordnung, und sensibilisiert sie darüber hinaus für den angemessenen Umgang mit den Quellen in der jeweiligen Disziplin und in ihrem Zusammenspiel. Als Vertreter der beiden Fächer findet man hier wichtige Forschungsfragen und -diskussionen zusammengefasst, die in der Lehre eingesetzt werden und auch Denkanstöße für die eigene Forschung geben können.

Soi Agelidis