Werner Stangl: Zwischen Authentizität und Fiktion. Die private Korrespondenz spanischer Emigranten aus Amerika, 1492-1824 (= Lateinamerikanische Forschungen. Beihefte zum Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas; Bd. 41), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2012, 583 S., 6 s/w-Abb, 3 Ktn., ISBN 978-3-412-20887-5, EUR 69,90
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In der historischen Migrationsforschung gelten Auswandererbriefe vielfach als besonders authentische Zeugnisse der Wahrnehmungen und Erfahrungen "einfacher" Männer und Frauen; insbesondere in der spanischen und lateinamerikanischen Forschung werden sie Werner Stangl zufolge weitgehend unkritisch als mentalitätshistorische Quellen ersten Ranges betrachtet. Seine eigenen Untersuchungen führten den Autor dieser Grazer Dissertation hingegen zu einem aus alltags- und erfahrungsgeschichtlicher Perspektive eher ernüchternden Befund: Statt mit "authentischen" Eindrücken und Fakten werden die Leser derartiger Quellen häufig mit Stereotypen, bisweilen sogar mit Fälschungen und Fiktionen konfrontiert.
Den Ausgangspunkt von Stangls Beschäftigung mit spanischen Emigrantenbriefen bildeten mehrere Quellensammlungen, in welchen insgesamt rund 1.000 Briefe publiziert wurden. Eine eingehende Auseinandersetzung mit diesen Publikationen zeigte allerdings, dass die ihnen zugrunde liegenden Selektions- und Editionskriterien wenig transparent sind. Die Suche des Autors in relevanten Beständen des Archivo General de Indias in Sevilla förderte über 1.200 zusätzliche Briefe zutage, von denen 200 im Anhang der vorliegenden Studie publiziert sind. Der Gesamtbestand von 2.230 Auswandererbriefen des 16. bis frühen 19. Jahrhunderts wird einerseits einer quantitativen und inhaltlichen Analyse unterzogen; andererseits setzt sich Stangl eingehend mit den Selektions- und Überlieferungsbedingungen dieser Quellen auseinander. Gerade dieser letztere Aspekt verleiht der Studie ihren besonderen Wert.
Als "privat" definiert Stangl zunächst alle Arten von Briefen, deren Verfasser nicht in einer offiziellen Funktion - etwa als Gouverneur, Richter oder Verwaltungsbeamter - schrieben. Neben den Familienkorrespondenzen von Adeligen und Geschäftsbriefen von Kaufleuten bilden Anwerbe- und Einladungsschreiben spanischer Siedler in der Neuen Welt - sogenannte cartas de llamada - das bei Weitem umfangreichste Korpus derartiger "Privatbriefe". Die Überlieferung der cartas de llamada hängt indessen aufs engste mit der bürokratischen Praxis des spanischen Kolonialreichs zusammen: Wer in der Kolonialzeit nach Spanisch-Amerika auswandern wollte, benötigte eine behördliche Lizenz, und im Rahmen des Antragsverfahrens war unter anderem ein Anwerbeschreiben eines amerikanischen Siedlers vorzulegen. Wie Stangl überzeugend darlegt, hatte diese bürokratische Funktion entscheidenden Einfluss auf Form und Inhalt der cartas de llamada: Die Briefschreiber (die in ihrer überwältigenden Mehrzahl männlichen Geschlechts waren) vermieden Kritik an den politischen und sozialen Zuständen in den Kolonien und bedienten sich einer standardisierten, formelhaften Sprache, die dem Verwendungszweck der Briefe im Verfahren der Lizenzerteilung angemessen war. Dass ein nicht genau zu beziffernder Teil dieser Schreiben manipuliert bzw. sogar fingiert war, fiel bereits den spanischen Behörden auf. Die Herausgeber der bislang vorliegenden Briefeditionen haben sich mit dieser Problematik jedoch nicht auseinandergesetzt.
Stangls quantitative Auswertung des Briefkorpus liefert detaillierte, in zahlreichen Tabellen, Karten und Grafiken aufbereitete Informationen zu dessen zeitlicher Streuung, zur Alters- und Berufsstruktur der Schreiber, zum Geschlechterverhältnis der Absender und Adressaten sowie zur regionalen Verteilung der Herkunfts- und Zielregionen, welche die Erkenntnisse der quantifizierenden Migrationsforschung in ihren Grundzügen bestätigen, in einigen Punkten aber auch nicht unerheblich modifizieren. Die Untersuchung des Inhalts der cartas de llamada - welche deren Aussagewert allerdings eher umreißt als ihn erschöpfend auszuwerten - hebt deren Bedeutung für die Rekonstruktion von Beförderungszeiten und -kosten, der Organisation der Überfahrt nach Amerika sowie der sozialen Beziehungen und Konflikte der Briefautoren hervor.
Stangls materialreiche Untersuchung ist Pflichtlektüre für alle, die sich mit dieser Quellengattung auseinandersetzen, und bildet einen bemerkenswerten deutschsprachigen Baustein zum sich entfaltenden Forschungsfeld der atlantischen Geschichte - auch wenn sich der Verfasser mit diesem Forschungsparadigma nicht explizit auseinandersetzt und der Vergleich mit anderen Regionen der atlantischen Welt künftigen Studien vorbehalten bleibt.
Mark Häberlein