Gunnar Seelow: Strategische Rüstungskontrolle und deutsche Außenpolitik in der Ära Helmut Schmidt, Baden-Baden: NOMOS 2013, 490 S., ISBN 978-3-8487-0717-1, EUR 89,00
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Mit der vorliegenden Arbeit nähert sich Gunnar Seelow einem bislang noch wenig beachteten Feld der zeitgeschichtlichen Forschung: Der Konzeption der bundesdeutschen Außenpolitik während der Kanzlerschaft Helmut Schmidts. Seelow stellt in seiner Dissertation die Frage nach dem Verhältnis der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland zur arms control der USA und den rüstungspolitischen Absichten der Sowjetunion während der 1970er und 1980er Jahre.
Der Autor, der zurzeit als Büroleiter für eine politische Partei tätig ist, gliedert seine umfangreiche Studie in dreizehn Kapitel. Der einleitende Teil umfasst zwei Kapitel und beschäftigt sich im Wesentlichen mit der Klärung von Fragen hinsichtlich der Nuklearstrategie, der Nuklearrüstung und der Bedeutung des atomaren Gleichgewichts der Supermächte für die Bundesrepublik Deutschland im NATO-Kontext am Ende der 1970er Jahre. Dabei geht Seelow auch auf die amerikanische und sowjetische Nuklearstrategie der 1950er und 1960er Jahre ein. Da er sich seinem Untersuchungsgegenstand jedoch aus dezidiert westlicher Sicht nähert, beginnt der Hauptteil seiner Arbeit mit der Darstellung der Anfänge der arms control während der Präsidentschaft Lyndon B. Johnsons und ihrem Bezug zur bundesdeutschen Außenpolitik, d.h. vor allem der Ostpolitik, während der Kanzlerschaft Brandts. Ein weiteres Kapitel widmet Seelow der Rüstungskontrolle unter Richard Nixon und dem Rüstungsbegrenzungs-Abkommen SALT.
Der eigentliche Höhe- und Schwerpunkt der Arbeit folgt im Anschluss daran. Die Kapitel fünf bis zehn thematisieren in chronologischer Reihenfolge gemäß den Amtszeiten der US-Präsidenten deren Rüstungskontrollpolitik, die verschiedenen Verhandlungsetappen hin zum SALT II-Abkommen sowie - in Kapitel sieben - Helmut Schmidts eurostrategisches Gleichgewichtskonzept. Auch die Debatte über die Neutronenwaffe, die Entstehung des NATO-Doppelbeschlusses und die Modernisierung des Arsenals taktischer Atomwaffen werden kapitelweise abgehandelt. In Kapitel elf zeichnet der Autor unterschiedliche innen- und außenpolitische Widerstände gegen den NATO-Doppelbeschluss nach. Dabei geht er zu Beginn des Kapitels insbesondere auf die Reaktionen von UdSSR und DDR ein. Das Ende der Entspannungspolitik durch das weitgehende Scheitern von SALT II und die sowjetische Intervention in Afghanistan im Jahr 1979 markieren gleichzeitig den Schlussteil von Seelows Untersuchung. Hier stellt er die Bemühungen der Bonner Diplomatie und die Neukonzeptionierung der rüstungskontrollpolitischen Leitlinien dar, die durch den Afghanistan-Einmarsch der UdSSR nötig geworden waren. Im dreizehnten und letzten Kapitel richtet Seelow den Fokus wieder auf den von den Supermächten dominierten, bipolaren Kontext, wobei er insbesondere die Genfer Verhandlungen über nuklear bestückte Mittelstreckenraketen und das Abkommen über die Reduzierung strategischer Atomwaffen Ende der 1980er Jahre in den Blick nimmt.
Seelow greift in seiner fast 500 Seiten starken Studie stellenweise weit über den eigentlichen Kern seines Untersuchungsgegenstandes hinaus. Es gelingt ihm dadurch, nachvollziehbar zu machen, weshalb "Bonns ostpolitische Erfolge [...] ohne die Détente Washingtons nicht denkbar gewesen" (16) wären und dass sich die bundesdeutsche Außenpolitik lange Zeit Illusionen über die Reichweite ihres Einflusses machte. Denn erst "im Zuge der Folgeverhandlungen nach SALT und dem Abkommen von Wladiwostock begann die Bundesregierung [...], sich eingehender mit der Frage der strategischen Rüstungskontrolle auseinanderzusetzen - davor überlagerte die neue Ostpolitik den Blick auf die Auswirkungen der arms control" (26). Auch und gerade vor dem Hintergrund des innenpolitisch heftig umstrittenen NATO-Doppelbeschlusses wird dies klar.
Der "erste ernsthafte Versuch, die in Westeuropa stationierten Kernwaffen zu modernisieren, um so die Eskalationsleiter der NATO und die Strategie der flexible response wieder glaubhaft zu machen, war das missglückte Neutronenwaffenprogramm" (445), das sich bereits während der Präsidentschaft Gerald Fords in Vorbereitung befand. Hier bildeten sich bereits die "Eckpunkte des späteren NATO-Doppelbeschlusses" (445) heraus. Und so stellt Seelow fest: Die Enhanced Radiation Weapon - besser bekannt als Neutronenbombe - "anzuschaffen, war innerhalb des [NATO]-Bündnisses Konsens. Daher ist der Vorwurf der Bundesregierung, man sei in dieser Frage von der US-Regierung [...] überrumpelt worden, falsch." (445). Schmidt billigte aus innenpolitischen Gründen auch das immer größere Auseinanderdriften zwischen der Politik der NATO und ihrer Darstellung nach außen, denn "die Rücksicht auf die Parteibasis, die weitere Erfolge in der Entspannungspolitik, nicht die Einführung neuer Nuklearwaffen, erwartete, zwang Helmut Schmidt zu Kompromissen, die seine Bündnispolitik behinderten" (446).
Es gab demnach keine offene Kommunikation aus Rücksicht auf innerparteiliche Zwänge. Die Konflikte in der SPD führten somit schließlich auch zu außenpolitischen Spannungen mit den USA. Denn, so Seelow, die "mangelnde allianzinterne Kommunikation, die letztlich für das Scheitern der Neutronenwaffe verantwortlich war, verschärfte das ohnehin angespannte Verhältnis zwischen Helmut Schmidt und Jimmy Carter" (447). Seelows Antwort auf seine eingangs erwähnte Forschungsfrage fällt am Ende seiner Analyse nicht eben überraschend aus: "Helmut Schmidt [hatte] nur begrenzten Einfluss auf die Rüstungskontrollpolitik der Supermächte und konnte allianzpolitischen Entscheidungen häufig nur reaktiv begegnen" (459).
Insgesamt macht der Autor in seiner Arbeit drei Probleme der westdeutschen Außenpolitik deutlich: Erstens sei die nukleare Rüstungskontrollpolitik der Bundesrepublik weitgehend konzeptionslos geblieben, zweitens befürchtete man in Bonn eine Annäherung der Supermächte auf Kosten der sicherheitspolitischen Bedürfnisse der Europäer und drittens verfolgte man außenpolitisch schwerpunktmäßig die Ostpolitik und stufte viele Problemfelder als zweitrangig ein. Alles in allem hat Gunnar Seelow eine ebenso fundierte wie kenntnisreiche und empirisch dichte Studie vorgelegt, die man - trotz der mitunter verwirrenden Fülle von Abkürzungen - mit großem Gewinn liest.
Bettina Sophie Weißgerber