Rezension über:

Karsten Brüggemann / Mati Laur / Pärtel Piirimäe (Hgg.): Die Baltischen Kapitulationen von 1710. Kontext - Wirkungen - Interpretationen (= Quellen und Studien zur baltischen Geschichte; Bd. 23), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2014, VI + 217 S., ISBN 978-3-412-21009-0, EUR 34,90
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Rezension von:
Joachim Krüger
Universität Greifswald
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Joachim Krüger: Rezension von: Karsten Brüggemann / Mati Laur / Pärtel Piirimäe (Hgg.): Die Baltischen Kapitulationen von 1710. Kontext - Wirkungen - Interpretationen, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 5 [15.05.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/05/26552.html


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Karsten Brüggemann / Mati Laur / Pärtel Piirimäe (Hgg.): Die Baltischen Kapitulationen von 1710

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Im Jahre 1710 unterzeichneten die baltischen Ritterschaften, die Magistrate der Städte und die schwedischen Garnisonen in den bis dahin baltischen Provinzen Schwedens Kapitulationen, die später von Zar Peter I. konfirmiert wurden. Damit ging die Herrschaft im Baltikum von Schweden auf Russland über. Estland und Livland erhielten zunächst einen halbautonomen Status im russischen Staatsverband, der später zu heftigen Kontroversen führen sollte. Damit wird die Themenbreite der hier anzuzeigenden Publikation umrissen. Der vorliegende Sammelband vereint neun Beiträge der Tagung "Die Kapitulationen von 1710: Kontext, Wirkung, Interpretation", die vom 23.-25. September 2010 von der Baltischen Historischen Kommission, dem Institut für Geschichte und Archäologie und der Juristischen Fakultät der Universität Tartu und dem Historischen Institut der Universität Tallin in Tartu durchgeführt wurde.

Einleitend geht Jürgen von Ungern-Sternberg (Europäische Kapitulationsurkunden: Genese und Rechtsinhalt) auf die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs "Kapitulation" ein: ein förmlicher Vertrag zwischen zwei Partnern, der für beide Seiten vorteilhaft ist. Der wesentliche Inhalt einer Kapitulationsurkunde war, den jeweils bestehenden Rechtszustand zu beschreiben und durch den Sieger bestätigen zu lassen. Problematisch allerdings war die zeitliche Gültigkeit einer Kapitulation, die auf die Dauer des Krieges beschränkt und durch einen späteren Friedensvertrag außer Kraft gesetzt werden konnte. Der Autor vergleicht die baltischen Verträge von 1710 mit anderen europäischen Kapitulationen, deren Konzept durch die Französische Revolution und die moderne Staatsauffassung in Verbindung mit der Idee der allgemeinen Bürgerrechte überholt worden ist.

Ralf Tuchtenhagen (Die Kapitulationen von 1710 im Kontext der schwedischen Reichspolitik Ende des 17. Jahrhunderts) analysiert die schwedische Politik in den Ostseeprovinzen vor Ausbruch des Großen Nordischen Krieges. Er kommt zu dem Schluss, dass diese weniger gegen die baltischen Stände gerichtet, sondern vielmehr auf die Sicherung und Konsolidierung des schwedischen Herrschaftssystems und der territorialen Gewinne aus der Zeit zwischen 1561 und 1660 ausgerichtet gewesen sei.

Pärtel Piirimäe (The Capitulations of 1710 in the Context of Peter the Great´s Foreign Propaganda) untersucht die außenpolitischen Ziele Peters I. und die ideologischen Absichten, die sich hinter der Konfirmation der baltischen Kapitulationen vermuten lassen. Es war ein erklärtes Ziel des Zaren und der russischen Regierung, das Image des barbarischen Reichs abzustreifen. Ersetzt werden sollte es durch das Bild eines christlichen Landes, das wegen der von den Feinden aufgezwungenen Isolation in der Entwicklung etwas zurückgeblieben sei, durch Peter I. jedoch zu einem zivilisierten europäischen Land aufsteigen würde. Nach Piirimäe sind die mit den Kapitulationen von 1710 einhergehenden Bestätigungen der Privilegien als gönnerhafte Geste gegenüber den Eliten der Ostseeprovinzen zu verstehen. Erst Jahre später ist der Gedanke formuliert worden, dass sie die Rechte der russischen Monarchie einschränken könnten.

Andres Andresen (Der Systemwechsel in der Kirchenleitung Estlands nach 1710 und seine Bedeutung für ein Paradigma der deutschbaltischen Geschichtsschreibung) hinterfragt die aus der deutschbaltischen Historiographie stammende Behauptung der Rechtskontinuität der ständischen Selbstverwaltung unter der russischen Herrschaft am Beispiel der Umgestaltung der Kirchenleitung im Gouvernement Estland nach 1710.

Die Beziehungen zwischen dem Zentralstaat Russland und seinen baltischen Provinzen im 18. Jahrhundert sind in der Historiographie meist aus der Perspektive Rigas oder Revals untersucht worden. Es liegen fast keine Untersuchungen aus der Sicht Moskaus oder St. Petersburgs vor. Diesem Desiderat widmet sich Mati Laur am Beispiel der baltischen Politik Katharinas II. (Katharina II. und die Kapitulationen von 1710). Durch den Regierungsantritt Katharinas wurden die Beziehungen zwischen St. Petersburg und den baltischen Provinzen ihrer bisherigen Stabilität beraubt. Zunächst bestätigte sie die Privilegien von 1710. Jedoch spätestens 1764 erfolgte in der Frage der Autonomie der Provinzen ein Umdenken der Zarin. Die Stärkung des russischen "Absolutismus" und der Gedanke, das Reich als ein Ganzes zu sehen, setzten die baltische Autonomie stark unter Druck.

Gert von Pistohlkors ("Alte Ruinen" oder Garanten einer zeitgemäßen praktischen Politik? Zur Interpretation der livländischen Privilegien von 1710/21 vor der "Russifizierung" 1841-1885) schreibt über die deutschbaltische Historiographie am Beispiel der umfangreichen Quellensammlung des ehemaligen livländischen Landrats Reinhold Baron von Stael von Holstein (1846-1907), in der die Trauer darüber zum Ausdruck gebracht wird, dass der auf Privilegien gegründete baltische Landesstaat allmählich an den Rand des politischen Geschehens gerückt sei.

Marju Luts-Sootak (Die baltischen Kapitulationen von 1710 und die Gesetzbücher des 19. Jahrhunderts) legt eine vergleichende Analyse der Kapitulationen der Est- und Livländischen Ritterschaft vor. Dabei unterscheidet sie zwischen aktuellen politischen Themen wie etwa der Frage der Restitution der schwedischen Reduktionen und prinzipiellen Fragen, die den Sonderstatus der Ostseeprovinzen im Russischen Reich auf eine feste Grundlage stellen sollten. Eine Dauerlösung erhoffte man sich von der Kodifizierung des Provinzialrechts im 19. Jahrhundert.

Lars Björne (Finnland 1809 - und die Entwicklung danach: Versuch einer kurzen Rechtsgeschichte) und Robert Schweitzer (Vorbild oder Auslaufmodell? Die Bedeutung der Kapitulationen und der Autonomie der Ostseeprovinzen für die Autonomie Finnlands im Russischen Reich) betrachten den Sonderfall Finnland im Russischen Reich. Mit dem Frieden von Nystad 1721 fielen die altfinnischen Gebiete um Viborg und Kexholm an Russland. Als die finnischen Stände im März 1809 Alexander I. in Porvoo huldigten, konnten sie auf die fast einhundertjährigen Erfahrungen der baltischen Provinzen und Altfinnlands als Teile des Russischen Reichs zurückgreifen. Die finnischen Stände ließen sich nicht auf eine einfache Provinzialautonomie ein, Finnland wurde in den Rang eines Großfürstentums erhoben. Die Entwicklung Finnlands unterscheidet sich deutlich von den baltischen Provinzen. Die Ostseeprovinzen wirkten aktiv an der Kodifizierung der noch existierenden regionalen Gesetze des Kaiserreichs seit den 1830er Jahren mit. Die Finnen hintertrieben mit Erfolg das Unternehmen, weil die von ihnen erstrebte staatsähnliche Autonomie nur zu behaupten war, wenn ihre Quelle ein Rechtsdokument außerhalb der Sphäre der Autokratie blieb. Die Eingliederung der Ostseeprovinzen in den russischen Staat war für Finnland kein Vorbild.

Auch wenn das Jahr 1710 in der est- und livländischen Erinnerungskultur kaum eine Rolle spielt, war es doch ein Einschnitt von historischer Bedeutung, dessen Aufarbeitung durch den angezeigten Band nun vorangebracht wird. Die Zusammenarbeit von Historikern und Rechtshistorikern sowie Rechtshistorikerinnen hat sich, obgleich die historischen Beiträge überwiegen, dabei bewährt. Hervorzuheben ist die Einbeziehung Finnlands in die Reihe der Untersuchungen, eine weitere Betrachtung der baltischen Kapitulationen im Vergleich mit anderen Kapitulationen aus der Zeit Peters I. bleibt dagegen ein Desiderat.

Joachim Krüger