Michael Schwartz: Funktionäre mit Vergangenheit. Das Gründungspräsidium des Bundesverbandes der Vertriebenen und das "Dritte Reich", München: Oldenbourg 2013, X + 594 S., ISBN 978-3-486-71626-9, EUR 69,80
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Gegenstand des Buches ist das 1958 gebildete, aus 13 Personen bestehende erste Führungsgremium (Präsidium) des Bundes der Vertriebenen (BdV). Die Untersuchung ist eingeteilt in ein Einleitungskapitel, das den historischen Überblick bietet, und drei weitere Hauptkapitel "Lebensläufe bis 1933", "Politisches Verhalten 1933-1939" und "Politisches und militärisches Verhalten im Zweiten Weltkrieg 1939-1945". Behandelt werden die individuellen Biografien der Personen, die diese Kleingruppe bilden, und deren Grad an persönlicher, beruflicher, politischer beziehungsweise militärischer Verstrickung in das nationalsozialistische Regime und dessen Verbrechen.
Im Ergebnis der von den Autoren unter Leitung von Michael Schwartz, allesamt Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ), München, mit großer Sorgfalt und erheblichem Aufwand geführten Recherchen zeigt sich eine sehr starke Involvierung beziehungsweise Affinität des BdV-Gründungspräsidiums zum Nationalsozialismus: Nur zwei der 13 Präsidiumsmitglieder - Linus Kather aus Königsberg und der sudetendeutsche Sozialdemokrat Wenzel Jaksch - können als unbelastet betrachtet werden. Für die anderen ergibt sich (mit gewissen Vorbehalten) ein abgestuftes Bild: Zwei Präsidiumsmitglieder (der Ostpreuße Alfred Gille als Gebietskommissar und der Schlesier Erich Schellhaus wegen wahrscheinlicher Beteiligung am Krieg gegen Partisanen in Weißrussland) gelten demnach als besonders schwer belastet. Schwer belastet waren ebenso Rudolf Wollner aus Böhmen und der Ostpreuße Hellmut Gossing (wegen militärischer Aktivitäten). Geringer belastet sind Hans Krüger aus Hinterpommern, der ehemalige Vertreter der deutschen Minderheit in Oberschlesien Otto Ulitz, der Donauschwabe Josef Trischler und der Danziger Heinz Langguth, ebenso der Ostpreuße Reinhold Rehs sowie Karl Mocker und Rudolf Lodgman von Auen, beide aus Böhmen.
Die von Schwartz und seinen Mitautoren in Form eines "Gutachtens" analysierte Zusammensetzung des BdV-Gründungspräsidiums hat in der öffentlichen Diskussion über die Geschichte des BdV und von Vertriebenenorganisationen eine längere Vorgeschichte: Angestoßen wurde die Erstellung des Gutachtens vom BdV selbst, der sich allerdings zuvor seitens der Medien und auch politischer Parteien mit drängenden Fragen nach der eigenen Vergangenheit konfrontiert gesehen hatte. Eine ebenfalls im IfZ entstandene, fachlich verunglückte (weil offenkundig von vornherein einer Entlastung des BdV verpflichteten) Vorstudie war 2010 zwar nicht zur Publikation freigegeben worden, aber dennoch in die Öffentlichkeit gelangt und hatte für entsprechende Kritik gesorgt. So waren die Erwartungen hoch, die sich an das von Schwartz und dem IfZ verantwortete Buch richteten. Dementsprechend ist in den überregionalen Medien, in unterschiedlichsten Presseorganen sowie auch im wissenschaftlichen Bereich viel darüber diskutiert und geschrieben worden; dass die Resonanz angesichts Thematik und Vorgeschichte unterschiedlich ausfällt, mag nicht überraschen. Sie sagt viel über das Buch und seine Bedeutung aus:
Wiederholt - und nach Ansicht des Rezensenten zu Recht - wird die umfassende Kontextualisierungsarbeit und die differenzierte, jegliche Pauschalurteile vermeidende Darstellung (Wigbert Benz [1]) gelobt, die "viele offene Fragen zur Vergangenheit führender Funktionäre des BdV" geklärt habe (Erich Später [2]). Sie basiert auf umfassender Literaturauswertung und Sichtung archivalischer Quellen und trägt zur "Verwissenschaftlichung" (Mathias Beer [3]) der Diskussion über den BdV und seine politische Rolle bei. Die vorbildliche Quellenerfassung und deren umsichtige und unvoreingenommene Interpretation bilden fraglos eine der Stärken des Buches. Die differenzierte Präsentation und zeitgeschichtliche Einordnung der strittigen Charta der deutschen Heimatvertriebenen von 1950 ist hier als Beispiel zu erwähnen.
Verschiedentlich wurde das Verhältnis zwischen dem Aufwand, der für die Erstellung der Studie betrieben wurde, und deren Ergebnis, nämlich dass die meisten Mitglieder des BdV-Präsidiums mehr oder weniger in den Nationalsozialismus involviert waren und diesen stützten, kritisiert. Dieses Resultat sei wenig überraschend (Franziska Augstein [4]) oder gar ganz ohne "Neuigkeitswert" (Michael Wolffsohn [5]), weil man Derartiges habe annehmen können. Weitergehend ist die einem Verriss nahekommende Äußerung des Berliner Historikers Henning Köhler in der FAZ [6], der in dem Buch eine "überzogene Nazi-Riecherei" kritisierte, die keineswegs auf die Aufklärung der Vergangenheit abziele. Es handele sich um eine "linke Kritik an der bestehenden gesellschaftlich-politischen Ordnung, der durch das jämmerliche Scheitern des Sozialismus die gängigen Argumente ausgegangen sind". Und: "Mit der bewussten Verzeichnung des NS-Regimes als ständiger Herausforderung und Bedrohung" werde ein "Pappkamerad aufgestellt, auf den man beliebig einschlagen kann". Diese Pauschalargumentation stellt die Sinnhaftigkeit nahezu jeder institutionen- oder kollektivbiografischen Kontinuitätsforschung zur NS-Zeit in Zweifel und ist nicht nachvollziehbar. Im vorliegenden Buch geht es um nichts weniger als um die Gründungsgeschichte eines einflussreichen Interessenverbandes, der in der Geschichte und Politik der Bundesrepublik Deutschland deutliche Spuren hinterlassen hat.
In der polnischen Presse fand das Buch ein differenziertes Echo: In einem vierseitigen Text bemerkte beispielsweise Piotr Andrzej Cywiński [7] bei einem abwägend positiven Gesamturteil kritisch, dass es mehr als ein halbes Jahrhundert bis zur Veröffentlichung einer solchen Studie gebraucht habe, und kritisierte, dass es sich eigentlich um "alte Geschichten" handele, weil die Akteure längst nicht mehr am Leben seien. Nun sollen sich weitere Untersuchungen über die folgenden Generationen von BdV- und Landsmannschaftsvertretern anschließen. Abgesehen davon, dass bereits eine Reihe von Spezialstudien über die Geschichte von Vertriebenenorganisationen vorliegt, kann dem sicher zugestimmt werden - gleichwohl hat das vorliegende Buch zu einer soliden Grundlage für weitere Forschungen ganz entscheidend beigetragen und handwerkliche Maßstäbe gesetzt. Eine kollektive Biografie der wohl in die Hunderte reichenden Anzahl von BdV-Funktionären der folgenden Generationen wäre im Rahmen einer Studie wissenschaftlich seriös kaum zu leisten gewesen.
Mit der Fokussierung auf das Gründungspräsidium wurde eine für die Geschichte des BdV ebenso relevante wie für die Darstellbarkeit in einem Gutachten noch zu bewältigende Gruppe ausgewählt. Auch wenn deren starke Involvierung in den Nationalsozialismus schon vorher vermutet wurde, so stellt das Werk dennoch einen erheblichen Gewinn dar. Es besteht ein sehr großer Unterschied zwischen dem bisher lediglich Vermuteten, das - wie nicht nur hinlänglich bekannt, sondern auch geschehen ist - erheblichen Raum für Spekulationen, Legenden- und Mythenbildung zulässt, und dem nun erreichten gesicherten Wissen. Das Buch hat sein Ziel, die klare Beantwortung einer über Jahre wissenschaftlich und politisch kontrovers diskutierten Frage, überzeugend erreicht. Das ist ein hoch zu bewertendes Verdienst.
Anmerkungen:
[1] Wigbert Benz: Rezension zu: Michael Schwartz: Funktionäre mit Vergangenheit. Das Gründungspräsidium des Bundesverbands der Vertriebenen und das "Dritte Reich", München 2012, in: Archiv für Sozialgeschichte online (53) 2013, URL: http://www.fes.de/cgi-bin/afs.cgi?id=81451 (20.03.2014).
[2] Erich Später: Männer mit Erfahrung. Das erste Präsidium des Bundes der Vertriebenen/Vereinigte Landsmannschaften (BdV/Vl) wurde von ehemaligen Mitgliedern der NSDAP, SA und SS geführt, in: Konkret (2013), H. 1, 38-39.
[3] Matthias Beer: Rezension zu: Michael Schwartz: Funktionäre mit Vergangenheit. Das Gründungspräsidium des Bundesverbands der Vertriebenen und das "Dritte Reich", München 2012, in: H-Soz-u-Kult vom 07.05.2013, URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2013-2-093 (20.03.2014).
[4] Franziska Augstein: Verweigerte Aufklärung. Der Bund der Vertriebenen wurde von Ex-Nazis gegründet. Eine Podiumsdiskussion in Berlin, in: Süddeutsche Zeitung vom 07.12.2012.
[5] "Hut ab" zur Aufarbeitung der Vergangenheit. Michael Wolffsohn im Gespräch mit Dieter Kassel, in: Deutschlandradio Kultur vom 12.12.2012, URL: http://www.deutschlandradiokultur.de/hut-ab-zur-vergangenheit.954.de.html?dram:article_id=230824 (20.03.2014).
[6] Henning Köhler: Auf der Suche nach belastendem Kontext. Das Präsidium des BdV von 1958 wurde durchleuchtet, das Wirken von 13 Männern vor 1945 rekonstruiert. Der Aufwand steht in keinem Verhältnis zu den Ergebnissen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13.01.2013.
[7] Piotr Andrzej Cywiński: Wypędzanie zombie. Związkiem Wypędzonych latami kierowali funkcjunariusze reżimu hitlerowskiego [Vertreibung der Zombies. Der Bund der Vertriebenen wurde jahrelang von Funktionären des Hitlerregimes geleitet], in: Uważam Rze vom 09.12.2012, URL: http://www.uwazamrze.pl/artykul/959345.html (20.03.2014).
Matthias Weber