Sabine Wefers: Das Primat der Außenpolitik. Das politische System des Reichs im 15. Jahrhundert (= Historische Forschungen; Bd. 99), Berlin: Duncker & Humblot 2013, 243 S., ISBN 978-3-428-14002-2, EUR 79,90
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Mit der Frage nach der Relevanz von Außenpolitik knüpft Wefers an die alte Forschungsdiskussion an, wie sich im römisch-deutschen Reich des späten Mittelalters "Innen" und "Außen" voneinander abgrenzen lassen. Auf der Grundlage eines Perspektivenwandels, der in den letzten Jahren dazu führte, dass die Vorbehalte gegenüber der Verwendung des Begriffs "Außenpolitik" für das Mittelalter sukzessive relativiert worden sind [1], erscheint es durchaus sinnvoll, die hiermit verbundenen Zusammenhänge neu zu beleuchten.
In der Einleitung referiert die Autorin zunächst den Forschungsstand, um dann einige zentrale Aspekte ihres Zugriffs auf die Thematik darzulegen. So problematisiert sie mit Recht, dass der neuzeitliche Staat vielfach als Orientierungspunkt und Maßstab zur Erforschung des Spätmittelalters herangezogen werde, was zur Konsequenz habe, dass spätmittelalterliche Verhältnisse nicht selten aus einer neuzeitlichen und damit anachronistischen Perspektive beurteilt würden. Es ist ihr daher ein grundsätzliches Anliegen, diese Prädisposition zu vermeiden und die "'Big Story' des werdenden Nationalstaats [...] zu überwinden" (15). Stattdessen müsse das Reich als ein heterogenes Strukturgemenge oder Beziehungsgeflecht offener Entwicklungsansätze betrachtet werden. Vor diesem Hintergrund sollen in der vorgelegten Studie vor allem das Handeln respektive Nicht-Handeln der zeitgenössischen Akteure sowie insbesondere die Auswirkungen der strukturellen Rahmenbedingungen auf den Handlungsradius des Reichsoberhauptes untersucht werden. Als Quellengrundlage dient dabei die Überlieferung zu den Hof- und Reichstagen, da diesen als Foren spätmittelalterlicher Politik besondere Bedeutung zukommt.
Die nachfolgenden Ausführungen sind in vier größere Abschnitte gegliedert, deren erster unter dem Titel "Strukturen und Handlungsträger" (24-41) die Beschaffenheit des Reiches, sozialstrukturelle Landschaften, den König, die Königswähler und die Reichsfürsten behandelt. In Anlehnung an die Symbolforschung zeigt Wefers zunächst, dass König und Kurfürsten "im Sinne einer politischen Fiktion" (31) die Einheit des Reiches verkörperten. Nur auf dieser Grundlage sei politische Handlungsfähigkeit nach innen und außen möglich gewesen. Bis ins 15. Jahrhundert waren die Verhältnisse im Reich vor allem durch eine ausgeprägte Heterogenität der Gruppe der principes, durch zahlreiche regionale Eigenständigkeiten und eine grundsätzliche Substratarmut des Königtums geprägt. Vor diesem Hintergrund hinterfragt die Autorin die aus modernen Gesellschaftstheorien abgeleiteten Interpretationen von "reichsständischen Reformprogrammen" als Ausweis einer Intensivierung der reichsständischen Partizipation an der Regierung. Die politische Realität des Reiches sei damit nicht zutreffend beschrieben, vielmehr sei auch im 15. Jahrhundert noch von einer schwer zu überschauenden Vielzahl politischer Subsysteme auszugehen.
Der nächste Abschnitt thematisiert unter dem Titel "Herausforderungen und Antworten" (42-70) die im Reich vorhandenen Strukturdefizite, die dadurch entstehende Krisensituation, die Bedeutung der alten Ordnung, den Reichskrieg, die Gefährdung der Christenheit durch die Türken und die von Wefers als "Self-Commitment" bezeichnete Bereitschaft der politischen Kräfte im Reich, in akuten Bedrohungssituationen unter Einsatz eigener Mittel handelnd einzugreifen. Dabei arbeitet die Autorin die verschiedenen Komponenten des im 15. Jahrhundert einsetzenden Wandlungsprozesses heraus, als dessen wichtigstes Instrument sie "die Erfahrung der Zeitgenossen" betrachtet, "dass die gewohnten Konfliktregelungsmuster nicht mehr ausreichten und an ihrer Stelle Mechanismen des großräumigen Zusammenhalts gefunden werden mussten" (48). Aus diesen Bemühungen sei im Ergebnis eine "neue Qualität des politischen Gesamtsystems" hervorgegangen.
Der dritte und mit Abstand umfangreichste Abschnitt ist den "Rollen der Handlungsträger" gewidmet (71-190). König und Papst, Konzilien, königliche Gesandte, Kurfürsten, Fürsten und Kommunen werden hier in ihrem politischen Agieren untersucht. Dabei fragt Wefers nach innenpolitischen, europäischen oder königlichen Anliegen, nach alten oder neuen Handlungsmustern, grundsätzlichen Handlungsoptionen sowie strukturellen Gemengelagen, um letztendlich festzustellen, dass "Regieren [...] im Reich des späten Mittelalters nach wie vor eine stark personale Seite" hatte (96). Ein Reich ohne König war, trotz der strukturellen Schwäche des Königtums, die von den Zeitgenossen durchaus wahrgenommen und problematisiert wurde, nicht möglich. Vor diesem Hintergrund erfahren die Kurfürsten, die vor allem subsidiär und nur in Ausnahmefällen komplementär zum König gewirkt hätten, besondere Aufmerksamkeit (108-155). Da die Strukturen in den Entscheidungsprozessen für das Reich noch unscharf waren und der Zusammenhalt der Kurfürsten als homogene Gruppe nicht gefestigt war, ergaben sich Beziehungsgeflechte, die je nach Situation mehr oder weniger Wirkung entfalten konnten. In diesem Zusammenhang von Reformstreben und Reformkräften zu sprechen, wird von Wefers zu Recht als problematisch erachtet, ebenso wie die seitens der Forschung erfolgte Qualifizierung des Wormser Reichstags von 1495 als Reformreichstag, die sie mit überzeugenden Argumenten widerlegt: "Insofern stellt sich die Frage, inwieweit ein 'Verfassungskampf' überhaupt in die Weltsicht der Zeitgenossen passte? Die Etikettierung als solche setzt nämlich legitimes Verfassungshandeln unabhängig vom König voraus und ist damit per se neuzeitlich geprägt. Kulturelle Selbstempfindung war im späten Mittelalter jedoch nach wie vor vergangenheitsbezogen; man identifizierte sich mit der überkommenen Ordnung, die es zu bewahren respektive wiederherzustellen galt. Rechtssicherheit bestand nur, wenn gewährleistet schien, dass die Grundlage politischen Handels [sic!] dieser traditionsgebundenen Selbstbestimmung entsprach. Der König war Garant dieser Ordnung" (117f.).
Der vierte und letzte Abschnitt wendet sich schließlich dem "Primat der Außenpolitik" zu (191-212). Hier werden die Anforderungen der europäischen Nachbarschaft erörtert, die Verzahnung von Innen- und Außenpolitik sowie die damit verbundene Diplomatie und der Druck von außen als Impulsgeber für strukturelle Veränderungen im Verfassungsgefüge des Reiches, das der König zwar repräsentieren, aber nicht beherrschen konnte (193). In den zusammenfassenden Schlussbemerkungen (213-217) betont Wefers noch einmal die Entwicklungsdifferenzen im Reich, das durch eine "strukturelle Inkonsistenz" geprägt gewesen sei. Ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Namen- und Ortsregister runden den Band ab.
Die eingangs formulierten Fragen nach den politischen Handlungsträgern sowie den Rahmenbedingungen, Anlässen und Mitteln politischen Handelns im spätmittelalterlichen Reich werden in der vorgelegten Studie an ausgewählten Quellen eingehend untersucht und nachvollziehbar beantwortet. Dabei steht freilich nicht so sehr die Außenpolitik im Vordergrund, vielmehr werden vor allem die inneren Funktionszusammenhänge des Reiches fokussiert. Auch wenn die erzielten Ergebnisse keine fundamental neue Perspektive bieten, so ist das Buch ein sehr nützliches Kompendium, welches sich durch eine konzise Darstellung des aktuellen Forschungsstandes auszeichnet, in der wiederholt auch eigene Akzente gesetzt werden. Unschön sind allerdings die zahlreichen Druckfehler, die - wie im Falle der "Apeacement-Politik" (93) - mitunter zu eigenwilligen Wortschöpfungen führen.
Anmerkung:
[1] Vgl. z.B. die Beiträge in Dieter Berg / Martin Kintzinger / Pierre Monnet (Hgg.): Auswärtige Politik und internationale Beziehungen im Mittelalter (13. bis 16. Jahrhundert) (= Europa in der Geschichte; Bd. 6), Bochum 2002.
Stefanie Dick