Gisela Mettele / Andreas Schulz (Hgg.): Preußen als Kulturstaat im 19. Jahrhundert (= Otto-von-Bismarck-Stiftung. Wissenschaftliche Reihe; Bd. 20), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2015, 185 S., ISBN 978-3-506-78077-5, EUR 24,90
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Die neuere Preußenforschung geht bekanntlich ab von der Fixierung auf den Macht- und Militärstaat, der nur einer teleologischen Bestimmung hinsichtlich Deutschlands gefolgt sei und wendet stattdessen ihren Blick stärker auf andere Aspekte staatlichen wie nichtstaatlichen Lebens. Seit Beginn der Neubetrachtung preußischer Geschichte in den 1980er Jahren hat hierbei insbesondere die These des "Kulturstaats Preußen" eine dominante Stellung eingenommen, zweifelsohne die spezifische Quellenlage zur preußischen Geschichte und zugleich die seinerzeit virulente Bürgertumsforschung produktiv verarbeitend. So nimmt es nicht Wunder, dass die Gebrüder Humboldt eine so exorbitante Stellung in der gegenwärtigen Wahrnehmung und Deutung preußischer Geschichte einnehmen. Der vorliegende Tagungsband eines 2012 zu Potsdam stattgefundenen Symposiums der Otto-von-Bismarck-Stiftung widmet sich eingehend der Frage, inwiefern Preußen während des 19. Jahrhunderts tatsächlich ein "Kulturstaat" war, womöglich sogar mit einem etablierten "Kulturkonsens" (16) der Eliten. Die Herausgeber Gisela Mettele und Andreas Schulz liefern eine dichte Einleitung (7-24), die knappe Zusammenfassungen der späteren Einzelbeiträge liefert und auf bestehende Forschungslücken hinweist. Der eigentliche Textteil ist in drei Bereiche gegliedert: Mythos und Realität des Kulturstaats (25-68), Kulturelle Infrastruktur und staatliche Bildungspolitik (69-126) und zuletzt "Bürgerkultur und Kulturstaat" (127-184).
Im ersten Block geht es um "Mythos und Realität" des Kulturstaats Preußen. Hier dekonstruiert Frank-Lothar Kroll die Entwicklung der "deutschen Mission", wie sie die kleindeutsch-borussische Historikerschaft im 19. Jahrhundert postuliert hatte. Bemerkenswert ist, dass die "zivilisatorische Mission [...] Preußens auf das Machbare und Notwendige reduziert" (16) worden sei, bewusst habe die Forschung sich demnach selbst in ihren an sich vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten begrenzt. Ergänzend arbeitet Andreas Schulz heraus, wie Preußens liberale (Außen-)Wahrnehmung seit dem gebrochenen Verfassungsversprechen und den Karlsbader Beschlüssen bis hin zur Revolution 1848/49 immer stärkere Ansehensverluste hinzunehmen hatte. Einen sehr luziden Beitrag liefert David E. Barclay, der vor eben diesem Hintergrund die Rezeption des "Kulturstaats Preußen" im angelsächsischen und französischen Bereich untersucht und damit die Entwicklung aufzeigt, die zur Pejorisierung des Kulturbegriffs in Ländern wie Großbritannien, Frankreich oder auch, was häufig unterschätzt wird, in den USA führte. Preußen war neben dem Kulturstaat eben doch auch Militär- und Beamtenstaat, auch Obrigkeitsstaat (59).
Hinsichtlich der kulturellen Infrastruktur heben die Beiträge von Wolfgang Neugebauer, Michael Maurer und Susanne Kill hervor, dass die führenden Schichten sowohl des Bürgertums als auch des Adels über eine Zielkonvergenz eigener Interessen mit der staatlichen Bildungspolitik verfügt hätten. Die Obrigkeit wollte "von oben" ordnen und kontrollieren, "von unten" kam hingegen eine vermehrte Bildungsnachfrage. Zwar führte die Struktur eines einheitlichen Bildungssystems tatsächlich zu erhöhter sozialer Mobilität, doch zugleich förderte die Einführung von Bildungsabschlüssen und die Privilegierung des Gymnasiums schon früh eine soziale Selektion. Die Herausgeber streifen in diesem Zusammenhang am Rande auch wenig erforschte Genderaspekte der Bildung: Bildungserwerb diente primär zur Unterstützung staatlicher Berufskarrieren - dies ein Grund, weshalb Frauen lange Zeit der Bildungszugang verwehrt wurde (17). Die Anfänge des Kulturstaates in Preußen werden als ein "weithin bürgerlich-liberales Projekt" (158) betrachtet, wie Hartwin Spenkuch formuliert.
Auf ganz anderer Ebene betont Klaus Gerlach in seinem Beitrag über bürgerliches und staatliches Engagement im Theater in Preußen, dass es weniger dem Staat als vielmehr der Eigenverantwortung Einzelner zu verdanken ist, wenn im Hohenzollernstaat eine "reiche und hochentwickelte Theaterkultur" entstand, die auch ein bildungspolitisches Ziel verfolgte (140). Matthias Kornemann sieht ebenfalls in den "gesellig-ästhetischen Rückzugsräumen in der Gesellschaft" eine wesentliche Wurzel des Erlernens eines bürgerlichen Habitus und Wahrnehmungshorizontes. "Erst in einem zweiten Schritt prägten diese Denkformen institutionelle Hüllen aus, die dann sehr wohl in die organisatorischen Hände des Staates übergehen konnten" (156). Hartwig Spenkuch hingegen zeichnet in einem hervorragenden Beitrag die Grundlinien der Entwicklung des Kulturstaats vom Wiederaufbau ab 1807 bis zum Ende des souveränen Preußens 1870 nach und weitet den Blick bis in die frühe Phase des Ersten Weltkriegs, wo die Vorstellung von "Kultur" in den Köpfen deutscher Gelehrter quasi auf den Kopf gestellt worden war.
Deutlich machen die verschiedenen Beiträge die Selbstlegitimation der preußischen Monarchie durch Förderung des Politikfeldes Kultur, gerade auch in Fragen der gesellschaftlichen Integration. Das strategische Zurückhalten bei Erfolg versprechenden Kulturinitiativen förderte jahrzehntelang die weltweit positive Wahrnehmung Preußens als liberales, wissenschaftsfreundliches Gemeinwesen. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts setzte dann eine Ideologisierung des Kulturbegriffs ein, sowohl in Preußen-Deutschland selbst (Spenkuch) als auch in der ausländischen Wahrnehmung (Beispiele bei Barclay), was auf eine allgemeine Tendenz hindeutet. Insgesamt dokumentiert der Band zugleich auch die Aktualität der Diskurse und Problemstellungen im Bildungswesen, seien es die Fragen nach der Zielsetzung der Bildung sowie der Förderung und Alimentierung des akademischen Mittelbaus (v.a. 163 ff.) oder letztlich auch der Ursachen und Konsequenzen des geringeren Frauenanteils im Wissenschaftsbetrieb.
Als Gesamtfazit bleibt festzuhalten, dass Gisela Mettele und Andreas Schulz einen Band vorlegen, der solide die Kulturstaatsthese komprimiert und in den Einzelbeiträgen gehaltvoll unterfüttert.
Anmerkung der Redaktion (13.07.2015):
Christopher Clark hat - anders als in der zunächst publizierten Fassung dieser Rezension vermerkt - zwar an der Tagung teilgenommen, allerdings keinen Vortrag gehalten.
Andreas Becker