Yuliya von Saal: KSZE-Prozess und Perestroika in der Sowjetunion. Demokratisierung, Werteumbruch und Auflösung 1985 - 1991 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 100), München: Oldenbourg 2014, VII + 404 S., 20 s/w-Abb., ISBN 978-3-486-70510-2, EUR 54,95
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In den letzten Jahren entstand eine Vielzahl von Arbeiten über die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) und ihre Auswirkungen sowohl auf die staatlichen als auch auf die transnationalen Beziehungen im Ost-West-Konflikt. [1] Einen gewichtigen Beitrag leistet dabei das mehrjährige Projekt des Instituts für Zeitgeschichte, "Der KSZE-Prozess: Multilaterale Konferenzdiplomatie und die Folgen (1975-1989/91)", das sowohl die multilaterale KSZE-Diplomatie als auch ihre Folgen für die inneren Verhältnisse in den Staaten des Warschauer Paktes thematisiert. Mit der Doktorarbeit von Yuliya von Saal liegt nun eine weitere Studie vor, die im Kontext des Projekts entstanden ist. Ihre Arbeit untersucht die Implikationen des KSZE-Prozesses für die Perestroika: Unter Gorbatschow wurden zum ersten Mal einzelne KSZE-Prinzipien schrittweise umgesetzt. Besondere Bedeutung kommt dem dritten KSZE-Folgetreffen in Wien (1986-1989) zu, "dessen Verlauf zum Spiegelbild der Perestroika wurde" (5). Aufschlussreich ist von Saals Analyse des Zusammenspiels zwischen KSZE-Konferenzdiplomatie und den gesellschaftlichen Akteuren in der Sowjetunion auf der einen sowie den Parteieliten auf der anderen Seite. Dabei stellt die Studie den "Gorbatschow-Faktor" nicht in Frage. Im Fokus der Arbeit steht hingegen "die Bedeutung der sowjetischen Gesellschaft bei der Sozialisation der KSZE-Normen" (19). Denn erst die "gesellschaftliche Mobilisierung" habe dazu geführt, dass die KSZE-Menschenrechtsnormen auf die politische Agenda Gorbatschows gelangten (19).
Die Gliederung der Arbeit ist weniger chronologisch und ereignisortinert, sondern spiegelt den innenpolitischen Wandel sowie die Verschiebung der Machtverhältnisse in der Sowjetunion wieder. Nach einem Überblick zum KSZE-Prozess vor 1985 widmet sich die Studie auf breiter Quellengrundlage den Interdependenzen zwischen dem Wandel der sowjetischen KSZE-Politik und Gorbatschows Liberalisierungsmaßnahmen. Der Hauptteil befasst sich mit den innenpolitischen Folgen des KSZE-Prozesses und der Eigendynamik, die die Menschenrechtsnormen im Zuge der Perestroika entfalteten. Dabei untersucht die Autorin die Herausbildung einer informellen Öffentlichkeit, die Wirkung von Gorbatschows Zugeständnissen im Bereich der Meinungs- und Pressefreiheit, die Erleichterung der Emigration aus der Sowjetunion vor dem Hintergrund der wachsenden Ausreisebewegung sowie die Entstehung der baltischen Bewegung zur Wiederherstellung der nationalen Unabhängigkeit. Von Saal arbeitet dabei anschaulich heraus, wie die KPdSU mit der Zeit ihre Deutungshoheit in den genannten Politikfeldern sukzessive an die innerstaatliche Opposition verlor. Abschließend befasst sich die Studie mit der Legitimationskrise der Partei und der wechselseitigen Beschleunigung von KSZE-Prozess und Demokratisierung.
Neben der überzeugenden Argumentation liegt eine der besonderen Stärken der Studie in ihrer breiten Quellenbasis. Die Autorin hat umfangreiches Material herangezogen. Sie schöpft aus den Beständen des russischen Staatsarchivs für Zeitgeschichte (RGANI), des Gorbatschow Archivs sowie des Staatsarchivs der Russischen Föderation (GARF). Die Einschätzung der gesellschaftlichen Mobilisierung durch staatliche Behörden arbeitet die Verfasserin präzise heraus - als Grundlage dienen die Papiere der örtlichen Moskauer Parteiorganisation im Zentralen Archiv der gesellschafts-politischen Geschichte Moskaus (CAOPIM). Die Autorin stellt dar, wie differenziert der Parteiapparat die unterschiedlichen informellen Gruppen wahrnahm. Dabei kommt von Saal zu der Schlussfolgerung, dass der Moskauer KP eine einheitliche Strategie im Umgang mit den unabhängigen Initiativen fehlte. Auf Seiten der Partei habe das "schablonenhafte Denken, die Ratlosigkeit und Inkompetenz" überwogen. Hinter den Bürgerrechtsgruppen habe der KGB "westliche Agenten" vermutet (115). Von Saal zeigt, dass trotz Perestroika von Seiten der Partei vor allem diejenigen Personen diffamiert wurden, die seit langem in der Bürgerrechtsbewegung aktiv waren.
Im Staatsarchiv der Russischen Föderation stand der Autorin der Fond 10007 zur Verfügung: Dabei handelt es sich um eine Sammlung von Briefen und Telegrammen der sowjetischen Bevölkerung an die Volksdeputierten des 1989 neu gewählten Kongresses. Anhand der Dokumente aus diesem Bestand zeigt die Autorin nicht nur die Aktivitäten der klassischen Bürgerrechtsbewegung, sondern auch die Petita einfacher Sowjetbürger aus entlegenen Regionen. So forderte ein Tatar aus dem Nordkaukasus in einem Brief vom Januar 1990 in einem Brief an den Deputierten Fedor Burlackij ein Gesetz zur Garantie der Reisefreiheit in Übereinstimmung mit den Bestimmungen der Wiener KSZE-Vereinbarungen (318-319).
Ein weiteres Verdienst der Studie ist die Darstellung der revidierten sowjetischen KSZE-Politik unter Gorbatschow, der die ursprünglich defensiv angelegte sowjetische Strategie zugunsten einer offensiven Ausrichtung aufgab. Wie zum Beispiel Hans Dietrich Genscher 1983 betonte, wusste die sowjetische Seite, "daß unsere Politik auf eine Änderung der Verhältnisse in Europa gerichtet ist". Wie konnte der angestrebte Wandel erleichtert und herbeigeführt werden? Genscher war überzeugt, "daß es der Vertrauensbildung dient, wenn wir sagen: keine heimlichen 'Trojanischen Pferde', keine 'Kreuzritter', die Mauern erstürmen wollen, keine anderen unfriedlichen Mittel, sondern den KSZE-Prozeß, der ihnen selbst die Notwendigkeit der Entwicklung und Änderung bewußt macht und ihnen die Chance gibt, mitzuwirken". [2] In der Tat suchte Gorbatschow diese Möglichkeit.
Im Rahmen des KSZE-Expertentreffens zu Menschenrechtsfragen in Ottawa versuchte die sowjetische Delegation ab 1985 zum ersten Mal "von der Rolle des Angeklagten zum Ankläger zu wechseln" (62). Die Sowjetunion beteiligte sich aktiv an der Implementierungsdebatte und gestand somit ein, dass die menschenrechtlichen Bestimmungen der Schlussakte eine Berufungsgrundlage in internationalen Verhandlungen seien. Das Wiener KSZE-Folgetreffen brachte die endgültige Wende. Im Dezember 1986 schlug der stellvertretende sowjetische Außenminister Anatolij Kovalev vor, eine Konferenz zu Fragen der Menschenrechte nach Moskau einzuberufen (66). An dieser Stelle würde der Leser gerne mehr über die Umsetzung der Perestroika im Apparat des sowjetischen Außenministeriums erfahren. Bedauerlicherweise sind jedoch die Direktiven für die sowjetische Delegation in Wien nicht zugänglich (64, Anm. 117).
Das wichtigste Ergebnis der Studie liegt ohnehin nicht im Bereich der internationalen Konferenzdiplomatie, sondern in den Auswirkungen des KSZE-Prozesses auf die sowjetische Gesellschaft vor dem Hintergrund der Perestroika. Unter dem Eindruck der Menschenrechtsoffensive Gorbatschows wurden einzelne Bürgerrechtgruppen und Initiativen gegründet, wie der Presseklub "Glasnost" oder das unabhängige internationale Seminar für Menschenrechte im Dezember 1987. Daraus wiederum resultierte die Bildung einer "parteiloyalen Menschenrechtsgruppe" um Fedor Burlackij (300). Die Autorin verdeutlicht, dass sich der Kreml somit gegenüber dem transnationalen Helsinki-Netzwerk öffnete.
Yuliya von Saals gründliche Studie ist ein wichtiger Beitrag zur Erforschung des KSZE-Prozesses, der vor 40 Jahren mit der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki begann und seine liberalisierenden Effekte vor allem in den 1980er-Jahren zeigte. Das Buch beleuchtet die Schnittstellen im Verhältnis von Staat und Gesellschaft und eröffnet damit neue Perspektiven in einem spannenden Forschungsfeld.
Anmerkungen:
[1] Zum Beispiel: Daniel C. Thomas: The Helsinki Effect. International Norms Human Rights, and the Demise of Communism, Princeton / Oxford 2001; Sarah B. Snyder: Human Rights Activism and the End of the Cold War. A Transnational History of the Helsinki Network, Cambridge 2011; Anja Hanisch: Die DDR im KSZE-Prozess 1972-1985. Zwischen Ostabhängigkeit, Westabgrenzung und Ausreisebewegung, München 2012.
[2] Bundesminister Genscher an Staatssekretär a.d. von Staden, 20. Dezember 1983, in: AAPD 1983, 1925; zu Genschers KSZE-Politik vgl. Matthias Peter: Die Bundesrepublik im KSZE-Prozess 1975-1983. Die Umkehrung der Diplomatie, München 2015; zur westlichen Transformationspolitik vgl. Oliver Bange / Gottfried Niedhart (Hgg.): Helsinki 1975 and the Transformation of Europe, New York / Oxford 2008.
Stephan Kieninger