Rezension über:

Andreas Büttner / Andreas Schmidt / Paul Töbelmann (Hgg.): Grenzen des Rituals. Wirkreichweiten - Geltungsbereiche - Forschungsperspektiven (= Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit; Bd. 42), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2014, 367 S., 5 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-20920-9, EUR 49,90
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Rezension von:
Ralf Lützelschwab
Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fischer
Empfohlene Zitierweise:
Ralf Lützelschwab: Rezension von: Andreas Büttner / Andreas Schmidt / Paul Töbelmann (Hgg.): Grenzen des Rituals. Wirkreichweiten - Geltungsbereiche - Forschungsperspektiven, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 7/8 [15.07.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/07/25149.html


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Andreas Büttner / Andreas Schmidt / Paul Töbelmann (Hgg.): Grenzen des Rituals

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Das Figurenpersonal, das die 14 Beiträge des vorliegenden Sammelbandes bevölkert, ist denkbar bunt: von segnenden Kinderbischöfen, tanzenden Kanonikern, schwatzhaften Adligen bis hin zu überforderten Patriarchen reicht das Spektrum, zusätzlich erweitert durch ein Schwein und mindestens 24 Kamele. Dabei verdeutlicht diese unvollständige Auflistung doch nur eines: die große thematische Spannbreite des Untersuchungsgegenstandes insgesamt. Denn alle Beiträge - chronologisch die Zeit vom frühen Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit abdeckend - fragen danach, wie ritualisierte Handlungen in unterschiedliche Kontexte eingebunden sind, miteinander agieren, sich unter Umständen aber auch wechselseitig begrenzen. Im Titel des Bandes wird deshalb auch schlicht nach den "Grenzen des Rituals" gefragt. Eine Verständigung über diese Grenzen scheint umso mehr geboten, als das Ritual über Jahrzehnte nicht nur zu einem Untersuchungsgegenstand der Geschichtswissenschaften aufsteigen, sondern auch Bereiche erobern konnte, die sich über lange Zeit recht unbeeindruckt vom "performative turn" gezeigt hatten. Es scheint nun an der Zeit, eine kritische Standortbestimmung vorzunehmen, und tatsächlich verorten nahezu alle Beiträge die Ritualforschung dort, wo sie hingehört: zwischen die Pole des Panritualismus und der totalen Kritik.

Da innerhalb der einzelnen Beiträge mit unterschiedlichen Definitionen von "Ritual" bzw. "Ritualität" operiert wird, bietet es sich an, zunächst mit der konzisen Zusammenfassung zu beginnen, für die Steffen Patzold verantwortlich zeichnet (Wirkreichweite, Geltungsbereich, Forschungsperspektiven, 349-359). Denn in ihr wird eine Antwort auf drei Fragen versucht: 1. Was ist ein Ritual?, 2. Welche Möglichkeiten haben wir, uns einem Ritual historisch anzunähern?, 3. Wie gestalten sich Wirkreichweite und Geltungsbereich von Ritualen? Wichtig scheint der Hinweis auf den von Ritualen generierten Bedeutungsüberschuss, der interpretationsbedürftig ist, selbst Konflikte hervorrufen, aber auch auffangen und abfedern kann. Und fast ebenso bedeutsam ist die Warnung davor, in allen Handlungssequenzen Rituale erkennen und untersuchen zu wollen. Fast bietet es sich da an, etwas weiter nach vorne zu blättern und sich den lesenswerten Ausführungen Gerald Schwedlers zu widmen, der in seinen Prolegomena zu einer Wissenschaftsgeschichte des Rituals einen Eindruck von der Zeitgebundenheit des Phänomens vermittelt (Ritual und Wissenschaft. Forschungsinteressen und Methodenwandel in Mittelalter, Neuzeit und Zeitgeschichte, 229-268). An einem konkreten Beispiel demonstriert Andreas Büttner, inwiefern der Blick durch die "rituelle Brille" (287) zu einer Art Betriebsblindheit des Historikers führen kann (Vom Text zum Ritual und zurück - Krönungsrituale in Quellen und Forschung, 287-306). Sein Beitrag setzt die für die Krönung Konrads II. vornehmlich von der Forschung vorgenommenen Rekonstruktionen und Bewertungen der rituellen Vorgänge in Beziehung zu der Vielzahl der für die Krönung Maximilians I. relevanten Belege. Die Schlusswarnung kann getrost als Caveat des gesamten Bandes gelten: die Tatsache, dass ein Quellenzeugnis als "Ritual" bezeichnet wird, darf niemals dazu führen, "direkt zur Realität außerhalb des Textes zu springen und die Schilderung einer Handlung vorschnell als tatsächliches historisches Geschehen einzustufen." (306)

Von der Unsicherheit, ob ein etablierter Forschungsgegenstand überhaupt als Ritual zu fassen ist, kündet der Aufsatz von Tanja Skambraks (Vom Ritual zum Spiel. Grenzen, Transfer und Ausformung ritueller Handlungsabläufe am Beispiel des mittelalterlichen Kinderbischofsfestes, 141-162). Skambraks, deren Dissertation zu den Kinderbischofsfesten jüngst erschien, [1] plädiert dabei vehement für ein die Eigenarten mittelalterlicher Frömmigkeitspraxis berücksichtigendes Liturgieverständnis, das die Überführung ritueller Handlungen von einem Kontext in den anderen, zusätzlich begleitet von einer Anlagerung performativer Elemente, durchaus akzeptierte. Die feierliche Einsetzung eines Kinderbischofs, der ja eine Reihe liturgischer Funktionen ausübte, wird von ihr einerseits als Mittel zum Spannungsabbau, zum anderen als Möglichkeit der Identifizierung mit den Werten und Regeln einer Gemeinschaft beschrieben. Deutlich tritt dabei die Ambivalenz der Handlungen zutage, die je nach Fragestellung als "Liturgie", "Spiel" oder eben "Ritual" gedeutet werden können. In diesem Spannungsfeld bewegt sich auch der Beitrag von Philip Knäble. Wo Kinder segnen, können Kanoniker auch tanzen (Ausgetanzt - Schwindende Akzeptanz eines kirchlichen Initiationsrituals im Spätmittelalter, 27-48). Analysiert wird der Tanz der "Pelotte": in der Kathedrale von Auxerre tanzten an Ostern Kanoniker auf dem Kirchenlabyrinth. Symbolisiert wurde dadurch die Aufnahme eines neuen Mitglieds in die Rechtsgemeinschaft des Kathedralkapitels - wir haben es hier zugleich mit Initiationsritual und Rechtsakt zu tun. Der Akzeptanzverlust dieses Rituals und sein Verschwinden in den 30er Jahren des 16. Jahrhunderts ist freilich weniger einem sich wandelnden "Zeitgeist", sondern Spannungen innerhalb des Kapitels geschuldet. Der Tanz, der korporative Einigkeit nach außen demonstrierte, wurde Opfer der Uneinigkeit eben dieser Korporation.

Der hochinteressanten Frage des bewussten Ritualbruchs in klösterlichen Kontexten geht Jörg Sonntag nach (Der "gute" Ritualbruch im Kloster, oder: Wenn das Heilige heiligen Ritualen Grenzen setzt, 189-207). Die stark aus Sonntags Dissertation [2] schöpfende Untersuchung beleuchtet die Verquickung des Individuellen und Rituellen im Kloster und fragt danach, ob Charisma zwangsläufig zu Ritualbrüchen führen muss(te). Ausgehend vom benediktinisch geprägten Mönchtum des 11. und 12. Jahrhunderts wird eindrucksvoll demonstriert, wie stark monastische Ideale zwar auf eine Gemeinschaft, nicht jedoch auf Charismatiker hin ausgerichtet waren, wie Ausbrüche aus diesen Idealen aber unter Bezugnahme auf eine Kategorie möglich wurden, die höher anzusiedeln war als das Ritual selbst, so etwa caritas und Demut, aber auch die (sancta) simplicitas. Auf eine Bezugnahme ganz anderer Art macht Britta Müller-Schauenburg in ihren Überlegungen zu den Verhandlungen Kaiser Sigismunds mit Benedikt XIII. über einen Rücktritt des Papstes aufmerksam (Der Heilige Geist und das Ritual. Das Scheitern der Verhandlungen Sigismunds mit Pedro de Luna (Benedikt XIII.) 1415 in Perpignan, 209-228). Dabei wird mit dem Heiligen Geist eine neue Kategorie, ein nicht ganz unproblematischer "theologischer Joker der Theologie" (225), in die Diskussion um das Scheitern von Ritualen mit eingebracht, ging es für Benedikt XIII. in Perpignan doch weniger um Macht als um das Heil. Tatsächlich provozierte das Insistieren des Papstes auf kirchenrechtliche Vorgaben (und somit auf einem langsamen Verhandlungsverlauf) das entnervte Ausbrechen Sigismunds aus dem Protokoll. Sein Begriff von Erfolg war nicht deckungsgleich mit dem, was der Papst darunter verstand. Scheitern hieß für Benedikt XIII., dass kirchliche Einheit offensichtlich nicht zu realisieren war. Der Heilige Geist hatte in seinen Augen gesiegt.

Insgesamt zeichnet nahezu alle Beiträge ein hohes Reflektionsniveau aus. Und auch wenn unterschiedliche Definitionen von "Ritual" miteinander konkurrieren, zeigt sich doch, wie stark Rituale in der sozialen Praxis verwurzelt sind, wie durch sie Gesellschaften strukturiert und "kollektive Sinnzuschreibungen" (14) verstetigt werden. Und es ist gut, dass sich nach dem Ritual-Rausch der vergangenen Jahrzehnte nun die Auffassung durchsetzt, dass vieles als Ritual begriffen und beschrieben werden kann, aber nicht immer zwangsläufig auch muss.


Anmerkungen:

[1] Tanja Skambraks: Das Kinderbischofsfest im Mittelalter (= Micrologus' Library; 62), Florenz 2014.

[2] Jörg Sonntag: Klosterleben im Spiegel des Zeichenhaften. Symbolisches Denken und Handeln hochmittelalterlicher Mönche zwischen Dauer und Wandel, Regel und Gewohnheit (= Vita regularis. Abhandlungen; 35), Berlin 2008.

Ralf Lützelschwab