Claudia Bade / Lars Skowronski / Michael Viebig (Hgg.): NS-Militärjustiz im Zweiten Weltkrieg. Disziplinierungs- und Repressionsinstrument in europäischer Dimension (= Berichte und Studien; Nr. 68), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 288 S., ISBN 978-3-8471-0372-1, EUR 29,99
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Christian Hartmann / Johannes Hürter / Ulrike Jureit (Hgg.): Verbrechen der Wehrmacht. Bilanz einer Debatte. Mit einem Vorwort von Jan Philipp Reemtsma und Horst Möller, München: C.H.Beck 2005
Jochen Böhler: Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2006
Christian Hartmann: Wehrmacht im Ostkrieg. Front und militärisches Hinterland 1941/42, München: Oldenbourg 2009
Stephan Lehnstaedt: Okkupation im Osten. Besatzeralltag in Warschau und Minsk 1939-1944, München: Oldenbourg 2010
Christian Hartmann: Halder. Generalstabschef Hitlers 1938-1942, 2., erweiterte und aktualisierte Auflage, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010
Im Juli 2002 hob der Bundestag die Unrechtsurteile der Wehrmachtjustiz gegen Deserteure auf. [1] Dass es dazu überhaupt kam, ist das Verdienst einer jüngeren Generation von Historikern, die die Geschichtsschreibung der ehemaligen Wehrmachtrichter [2] kritisch hinterfragten: Forscher wie Manfred Messerschmitt und Fritz Wüllner eröffneten in den 1980er Jahren eine differenzierte Debatte über das Thema, das bis heute trotz der Vielzahl an Studien lange nicht ausgeforscht ist. [3]
"NS-Militärjustiz im Zweiten Weltkrieg" ist ein jüngst von Claudia Bade, Lars Skowronski und Michael Viebig herausgegebener Aufsatzband, der aus langjähriger Forschung am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung und der TU Dresden resultiert. Die 15 Beiträge decken in drei Teilen ein breites Spektrum aktueller Erkenntnisse zur Wehrmachtjustiz ab, widmen sich Forschungslücken und werfen neue Fragen auf. Zunächst geht es um neue Perspektiven auf Quellen und Forschung, dann wird die europäische Dimension der NS-Militärjustiz beleuchtet, ehe man sich schließlich auf die Akteure und ihre Strafpraxis fokussiert.
Peter Kalmbach leitet mit einem Überblick über Besatzungsgerichtsbarkeit und -strafrecht zwischen 1939 und 1945 ein. Beides war durch eine Vielzahl an Justizorganisationen geprägt, die der Wehrmacht, dem Reichsjustizministerium, der lokalen Zivilverwaltung oder der SS unterstanden. Angesichts dieser Komplexität plädiert Kalmbach dafür, die deutsche Besatzungsgerichtsbarkeit nicht als monolithischen Block, sondern mit der notwendigen Differenzierung zu betrachten. Michael Viebig verweist dazu auf den Dokumentenbestand des Reichskriegsgerichts im Militärhistorischen Archiv in Prag, der noch nicht systematisch untersucht worden ist. Er gibt einen profunden Einblick in die Arbeitsweise dieser Terrorinstitution und ist damit für die internationale Forschung von großer Bedeutung. Maria Fritsche schlägt als neues Analysemodell einen gendertheoretischen Ansatz vor: Die besonders harten Strafen für Deserteure seien Ausdruck der Sozialisierung der Militärrichter mit bestimmten Idealen von Männlichkeit und "Manneszucht" gewesen - Werte, die schon im Kaiserreich anerkannt waren und die die Nationalsozialisten für ihre Zwecke erfolgreich einspannten.
Teil 2 beschäftigt sich mit der NS-Militärjustiz in Polen, Belgien, Frankreich, Italien und Norwegen. In Polen, so Ryszard Kaczmarek, waren die zahlreichen Urteile gegen fahnenflüchtige polnische Wehrmachtsoldaten Resultat der deutschen Germanisierungspolitik: Rund 2,5 Millionen Polen bekamen die deutsche Staatsbürgerschaft nachträglich verliehen - die Voraussetzung dafür, dass der männliche Teil nun (wider Willen) zum Kriegsdienst eingezogen wurde. Christoph Brüll arbeitet am Beispiel Belgiens die unklaren Zuständigkeitsabgrenzungen zwischen deutscher und einheimischer Justiz heraus. Diese führten zu permanenten Eingriffen der Besatzer in die belgische Gerichtsbarkeit. Auch stellt Brüll fest, dass die NS-Militärjustiz in Belgien wegen Überlastung kaum die geforderte Schlagkraft aufbrachte, sondern sogar Fälle ins "Altreich" abgeben musste. Die Kompetenzkonflikte zwischen Justizbehörden, Zivilverwaltung und Polizeiorganisationen radikalisierten nach Gaël Eismann auch in Frankreich die Besatzungsgerichtsbarkeit, zumal vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden Niederlage in Stalingrad. Ebenso sollten Militärgerichte im besetzten Italien seit 1943, so Kerstin von Lingen, systematisch jeglichen Widerstand gegen die Besatzer im Keim ersticken. Die Justiz ordnete sich der SS unter, die Verfahren gegen angebliche "Partisanen" vor eigenen Sondergerichten aburteilen ließ. Für Norwegen konstatiert Magnus Koch, dass zunächst allein die Wehrmachtjustiz für die strafrechtliche Verurteilung Einheimischer zuständig war. Dies änderte sich ab Herbst 1941, als wesentliche Kompetenzen auf SS und Polizei übergingen.
Trotz lokaler Spezifika sind Parallelen in den fünf Ländern zu erkennen. So führten die Konflikte zwischen Justiz und SS zur Eskalation der Strafpraxis. Der politische Druck auf die Richter verfehlte seine Wirkung nicht. Die Gerichte verfolgten eine Politik gnadenloser Abschreckung, gefördert durch die weite Auslegung von Generalklauseln und der Außerkraftsetzung geltender Rechtsnormen - bei "rechtsstaatlichem" Ablauf der Verfahren. Vorauseilender Gehorsam spielte bei der Radikalisierung der Justiz eine wichtige Rolle, auch wenn (oder gerade weil) die Juristen Handlungsspielräume besaßen - sie nutzten sie aber kaum zugunsten der Angeklagten.
Zu diesem Schluss kommen die Beiträge von Kerstin Theis, Albrecht Kirschner, Detlef Garbe und Claudia Bade in Teil 3. Die Dolchstoßlegende, so Theis, wirkte bei den Richtern: Die kaiserliche Justiz habe Desertion im Ersten Weltkrieg nur milde abgestraft und sich damit an der Niederlage mit schuldig gemacht. Für viele NS-Juristen war das ein Rechtfertigungsgrund, gegen Fahnenflüchtige die höchste Strafe zu verhängen. Kirschner und Bade betonen, dass auch unter extremen Umständen Freiheiten bei der Strafmaßdefinition sowie Alternativen der Urteilsfindung bestehen blieben. Die Richter hätten diese nutzen können, verzichteten aber aus persönlicher Überzeugung darauf. Ihre eigene Strafpraxis sahen sie nicht als Willkür an. Im Gegenteil: Sie orientierten sich penibel an den NS-Gesetzen und hielten formal das Verfahrensrecht ein.
Den Band runden die Aufsätze von Peter Steinkamp und Lars Skowronski ab, die sich mit dem Strafvollzug bzw. dessen juristischer Ahndung nach 1945 auseinandersetzen. Steinkamp untersucht die Feldstrafgefangenenlager, die wegen ihrer inhumanen Bedingungen berüchtigt und gefürchtet waren. Zahlreiche, von Ärzten und Lagerpersonal bewusst ignorierte Hungertodesfälle weisen auf eine Praxis der systematischen "Vernichtung durch Arbeit" hin. Nach Kriegsende ermittelten die Justizbehörden in der SBZ/DDR gegen ehemalige Wachleute und verurteilten laut Skowronski 1947 drei Angeklagte zu langen Haftstrafen. In der Bundesrepublik begannen die Staatsanwaltschaften 1952 umfangreiche Untersuchungen. Allerdings kam es zu keinem Verfahren, da viele Taten verjährt oder die Beschuldigten verstorben waren.
Der Band kann interessierten Fachfremden genauso empfohlen werden wie versierten Militärhistorikern, da er zum einen neue Wege für die Grundlagenforschung aufweist, zum anderen auf wertvolle, noch nicht analysierte Quellenbestände aufmerksam macht. Die fünf Länderbeispiele zeigen, dass es sich lohnt, die regionalen Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Justiz in den besetzten Gebieten herauszuarbeiten. Gerade, was die dortige Strafpraxis betrifft, bestätigt der Band Forschungen zur Ziviljustiz im "Altreich". So fördern die 15 Beiträge neue erschütternde Details über die Besatzungsgerichtsbarkeit im Zweiten Weltkrieg zutage.
Anmerkungen:
[1] Änderungsgesetz vom 23. Juli 2002 zum Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege vom 25. August 1998 (NS-AufhG, BGBl. I, 2501). Das NS-AufhG ist zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 24. September 2009 (Aufhebung der Unrechtsurteile gegen so genannte "Kriegsverräter", BGBl. I, 3150) geändert worden.
[2] Tatsächlich hatten die soldatische Perspektive sowie der durch sie geprägte Mythos von der 'sauberen Wehrmacht' jahrzehntelang den Diskurs geprägt. Eine kritische Aufarbeitung wurde von den ehemaligen Wehrmachtrichtern teils bewusst verhindert. Siehe hierzu u.a. Otto Peter Schweling / Erich Schwinge (Bearb.): Die deutsche Militärjustiz in der Zeit des Nationalsozialismus, Marburg 1977.
[3] Vgl. Manfred Messerschmidt / Fritz Wüllner: Die Wehrmachtjustiz im Dienste des Nationalsozialismus. Zerstörung einer Legende, Baden-Baden 1987. Siehe weiterhin Klaus Oldenhage: Zwischen Anpassung und Selbstbehauptung. Justiz und Nationalsozialismus während des Zweiten Weltkriegs, in: Justiz und Nationalsozialismus, hg. von der Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung, Hannover 1985, 135-153; Manfred Messerschmidt: Die Wehrmachtjustiz gegen "Zersetzer" und Pazifisten, in: Recht ist, was den Waffen nützt. Justiz und Pazifismus im 20. Jahrhundert, hgg. von Helmut Kramer / Wolfram Wette, Berlin 2004, 199-217; Ders.: Die Wehrmachtjustiz 1933-1945, Paderborn 2005; Cord Arendes / Edgar Wolfrum / Jörg Zedler (Hgg.): Terror nach Innen. Verbrechen am Ende des Zweiten Weltkrieges, Göttingen 2006 sowie Wolfram Wette / Detlef Vogel: Das letzte Tabu. NS-Militärjustiz und "Kriegsverrat", Bonn 2007.
Christine Schoenmakers