Rezension über:

Eike-Christian Kersten: Mainz - Die geteilte Stadt (= Veröffentlichungen der Kommission des Landtages für die Geschichte des Landes Rheinland-Pfalz; Bd. 30), Heidelberg / Ubstadt-Weiher / Basel: verlag regionalkultur 2014, 400 S., 3 Karten, ISBN 978-3-89735-803-4, EUR 32,80
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Rezension von:
Jörn Retterath
München
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Jörn Retterath: Rezension von: Eike-Christian Kersten: Mainz - Die geteilte Stadt, Heidelberg / Ubstadt-Weiher / Basel: verlag regionalkultur 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 7/8 [15.07.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/07/26902.html


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Eike-Christian Kersten: Mainz - Die geteilte Stadt

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Die Festlegung des Rheins als Grenze zwischen den alliierten Besatzungszonen im Jahr 1945 hatte für die Stadt Mainz einschneidende Folgen: Ihre rechtsrheinischen Stadtteile gelangten unter amerikanische Herrschaft, während die linksrheinischen samt der Kernstadt den Franzosen unterstanden. Die Gründung der Bundesländer Rheinland-Pfalz und Hessen ließ die Teilung der Stadt zu einem dauerhaften Zustand werden. Fortan wurde das auf der rechten Rheinseite gelegene Mainz-Amöneburg, Mainz-Kastel und Mainz-Kostheim (AKK) von Wiesbaden verwaltet, während sich die rechts des Rheins sowie links des Mains gelegenen Orte Mainz-Bischofsheim, Mainz-Ginsheim und Mainz-Gustavsburg (BGG) zu einer eigenständigen Gemeinde innerhalb des hessischen Landkreises Groß-Gerau zusammenschlossen. Insgesamt büßte Mainz durch die Grenzziehung 21 Prozent seiner Einwohner, 50 Prozent seiner Fläche sowie knapp 25 Prozent seiner Steuereinnahmen ein. Diverse Initiativen zur Rückgliederung der rechtsrheinischen Gebiete nach Mainz scheiterten.

Mit der Geschichte der Mainzer Teilung und den rechtlichen sowie politischen Faktoren, die ihre Beendigung bis heute verhindern, beschäftigt sich Eike-Christian Kersten in seiner 2011 an der Universität Mainz angenommenen Promotion. Darin verfolgt der Autor den Anspruch, einen Beitrag nicht nur zur Geschichte der Stadt Mainz und des Landes Rheinland-Pfalz zu leisten, sondern auch die Forschung zur deutschen Nachkriegsgeschichte und zum bundesrepublikanischen Regionalismus voranzubringen. Nach eigenen Angaben legt der Verfasser in seiner Studie "erstmals einen vollständigen Überblick" (60) über sämtliche Fälle ähnlicher Gebietsteilungen in Westdeutschland vor. In seiner Darstellung der Mainzer Situation stützt sich Kersten vor allem auf Verwaltungsschriftgut - insbesondere aus dem Stadtarchiv Mainz, der Hauptregistratur im Mainzer Rathaus sowie dem Büro des Mainzer AKK-Beauftragten -, ferner auf Zeitzeugengespräche, Presseartikel und zeitgenössische Publikationen.

Nachdem die US-Amerikaner im Juli 1945 die Besatzungsherrschaft über Mainz an die Franzosen abgegeben hatten, wurde die Grenze zwischen den Zonen und mithin zwischen Mainz und seinen rechtsrheinischen Stadtteilen "hermetisch abgeriegelt" (48) - ein Zustand der bis 1948 andauerte, auf den Kersten aber nur sehr rudimentär eingeht. Gleichzeitig wurde AKK auf US-amerikanische Weisung nach Wiesbaden eingemeindet - einen Schritt, den der Wiesbadener Regierungspräsident einen Monat später nach deutschem Recht nachvollzog. Gleichwohl nahm die Wiesbadener Stadtspitze an, dass die Gebietszuweisung nur vorübergehend sei.

Doch nichts hält bekanntlich länger als ein Provisorium mit all seinen Kuriositäten. So finden sich auf den Ortsschildern sowie auf amtlichen Schreiben noch heute Bezeichnungen wie "Landeshauptstadt Wiesbaden. Stadtteil Mainz-Kastel", die von Wiesbaden verwalteten AKK-Stadtteile werden weiterhin von den Mainzer Stadtwerken versorgt, die Stadt Mainz ist noch immer größter Grundeigentümer und die katholischen Kirchengemeinden in AKK sowie BGG gehören zum Bistum Mainz, nicht - wie Wiesbaden - zur Diözese Limburg.

Nach der - trotz eines Exkurses zu anderen westdeutschen Gebietsteilungsfällen - mit 100 Seiten zu lang geratenen Einleitung beschäftigt sich Kersten mit den rechtlichen Aspekten, die einer Beendigung der Mainzer Teilung entgegenstanden bzw. -stehen. Neben den sich aus dem mehrfach geänderten Artikel 29 Grundgesetz ergebenden Möglichkeiten, geht der Autor auf die ausbleibende Neugliederung der Bundesländer sowie auf die von August Euler (1951), Hans Luther (1955) und Werner Ernst (1972) im Auftrag des Bundes erstellten Länderreformgutachten ein. Ferner wird die Mainzer Teilung unter kritischer Bezugnahme auf die von Wiesbaden und Mainz bei den Verfassungsjuristen Ernst Forsthoff und Theodor Maunz 1954 bzw. 1956 in Auftrag gegebenen Gutachten rechtlich beurteilt. Des Weiteren widmet sich die Studie den vermögens- und finanzrechtlichen Auswirkungen der Grenzziehung. Die von Kersten anschließend vorgestellten "Möglichkeiten" (175) zur Rückgliederung der abgetrennten Mainzer Stadtteile sind - wie der Autor selbst eingesteht - teilweise unzulässig, da sie laut Bundesverfassungsgericht gegen das Grundgesetz verstoßen bzw. sich in rechtlichen Grauzonen bewegen, oder erscheinen kaum praktikabel. In diesem Kapitel verfolgt der Autor primär eine juristische und weniger eine geschichtswissenschaftliche Fragestellung.

Im mit 150 Seiten umfangsreichsten Teil der Studie geht es um die "Teilung der Stadt Mainz als politisches Problem" (191). Kersten zeigt darin die Argumentationsstrategien der verschiedenen Akteure auf: Vonseiten der Mainzer Stadtregierung wurde immer wieder auf die große wirtschaftliche Bedeutung der verlorenen Stadtteile hingewiesen und der vermeintliche Unrechtscharakter der Teilung betont. Während sich im Laufe der Zeit in BGG die Stimmung gegen die Rückgliederung nach Mainz wendete, spricht sich in AKK auch in aktuellen Meinungsumfragen eine Mehrheit der Bevölkerung für die Zugehörigkeit zu Mainz aus. Ihren Höhepunkt erreichte die Diskussion um die Rückgabe der AKK-Stadtteile Mitte der 1980er-Jahre: Der siegreiche Wiesbadener SPD-Oberbürgermeisterkandidat Achim Exner hatte im Wahlkampf 1985 eine Befragung der AKK-Bewohner versprochen. Diese (rechtlich unverbindliche und in ihrer Auswertung umstrittene) Umfrage fand ein Jahr später statt und sorgte für erheblichen Zündstoff zwischen Wiesbaden und Mainz. Zudem wurde im Bundestag eine Änderung des Grundgesetzes diskutiert, die es ermöglichen sollte, die rechtsrheinischen Mainzer Stadtteile nach Rheinland-Pfalz umzugliedern. Diese Initiative scheiterte jedoch. Neben den offiziellen städtischen und staatlichen Akteuren nimmt Kersten auch drei Bürgerinitiativen, die für bzw. gegen die Rückgliederung der Stadtteile eintraten, in den Blick.

Dennoch bleibt die Studie insgesamt stark einer politik- und rechtsgeschichtlichen bzw. rechtswissenschaftlichen Perspektive verhaftet. Die lohnenswerte Einbettung des Beispiels Mainz in größere historische Kontexte findet - entgegen dem in der Einleitung erhobenen Anspruch - kaum statt. Auch neuere Ansätze zum Verständnis von Raum, Grenze und Identität sowie eine Fragestellung, die stärker die Rolle der Medien und die AKK-Bewohner in den Blick nimmt, sucht der Leser vergebens. Hingegen ist das Werk reich an Eigenwilligkeiten: Der Autor verwendet konsequent die alte Rechtschreibung, er schreibt stets von "us-amerikanisch" (z.B. 49) und "südmainisch" (z.B. 48; gemeint ist das Gebiet links des Mains) und führt ein eigenes (und verwirrendes) System von Archivkürzeln ein (SA DA für Hessisches Staatsarchiv Darmstadt; SA HE für Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden; SA WI für Stadtarchiv Wiesbaden). Vollends skurril wird es, wenn er den Inhalt seiner Arbeit im Anhang nicht nur auf Deutsch, Englisch und Französisch, sondern auch auf Russisch und in einem an die Asterix-Comics erinnernden Latein ("Moguntia est omnis divisa in partes tres", 399) zusammenfasst. Zudem mindern lange und umständliche Satzkonstruktionen die Lesefreude teilweise erheblich. So heißt es etwa im Schlusskapitel: "Aufgrund der offen geäußerten Verbundenheit der Bewohner AKKs mit Mainz in ihrer regionalen und mentalen Identität, verbunden mit der Bewertung ihres Aktionsraumes, läßt sich zumindest mit Blick auf die Vororte Amöneburg, Kastel und Kostheim, in Anbetracht der noch bestehenden Verflechtungen mit Mainz mit Einschränkungen auch für Bischofsheim und Ginsheim-Gustavsburg, auch 65 Jahre nach der Abtrennung immer noch von einer Stadt sprechen: Mainz - die geteilte Stadt." (343)

Trotz dieser Monita kommt Eike-Christian Kersten das Verdienst zu, die Teilung der Stadt Mainz und die Debatte um die Rückgliederung der rechtsrheinischen Stadtteile erstmals aus geschichtswissenschaftlicher Sicht untersucht zu haben. Wer sich mit der Mainzer Geschichte im 20. Jahrhundert, der durch die Ziehung der Zonengrenzen vorweggenommenen föderalen Gliederung Westdeutschlands oder der Diskussion um die Reform der Länder in der Bundesrepublik beschäftigt, wird an der Arbeit nicht vorbeikommen.

Jörn Retterath