Tilmann Hanel: Die Bombe als Option. Motive für den Aufbau einer atomtechnischen Infrastruktur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1963, Essen: Klartext 2015, 264 S., ISBN 978-3-8375-1283-0, EUR 24,95
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Die Möglichkeit der militärischen Kernenergienutzung ist auch für die bundesdeutsche Kerntechnik von politikwissenschaftlicher [1] und zeithistorischer [2] Seite untersucht worden. Durch die Alliierten war nach dem 2. Weltkrieg der Aufbau einer bundesdeutschen Atomwirtschaft zunächst stark beschränkt. Bundeskanzler Adenauer erklärte 1954 den Verzicht auf die Herstellung von ABC-Waffen im eigenen Land, die Bundesrepublik wurde in die NATO aufgenommen. Mit Inkrafttreten der Pariser Verträge fielen die Restriktionen hinsichtlich der Produktion von Plutonium und hinsichtlich der Höchstleistung von Kernreaktoren.
Joachim Radkau kam vor mehr als 30 Jahren zu dem Ergebnis, dass eine "zielstrebige Steuerung der deutschen Atomentwicklung im militärischen Interesse nicht zu erkennen und auch wenig wahrscheinlich" sei. [3] Hanel nimmt hierzu die Gegenposition ein. Sie bildet die Ausgangsthese für seine Dissertation. Wegen Radkaus späterem Bekenntnis, mehr mit der Forschungsbegeisterung der kerntechnischen Community als mit der Wut der Gegner sympathisiert zu haben, vermutet Hanel, dass Radkau sich wider besseren Wissens nicht zu einer anderen Bewertung habe durchringen können. Die "Option auf die Bombe" sei wenigstens bis zum Ende von Adenauers Kanzlerschaft die treibende Kraft hinter dem Aufbau einer Kerntechnikinfrastruktur gewesen. Die als "friedlich" deklarierten Motive seien als "Tarnung" zu verstehen, die militärisch-außenpolitischen Motive die entscheidenden. Im Hinblick auf die Quellen werden insbesondere der vom Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten herausgegebenen Dokumentation der DDR [4] sowie den Akten des DDR-Verteidigungsministeriums "treffsichere Schlüsse" sowie "beträchtlicher Erkenntniswert" attestiert. (26)
All das macht darauf gespannt, welche Belege für das Überwiegen der "militärischen Option" bei der grundsätzlich unvermeidlichen Janusköpfigkeit von zivilen und militärischen Nutzungsmöglichkeiten der Kerntechnik ins Feld geführt werden. Die Ausbeute fällt jedoch eher mager aus. Hanel gibt zu, "dass die zur Verfügung stehenden Quellen über eine Einflussnahme der Bundeswehr auf die nationale Kerntechnikentwicklung nur in geringem Maße Aufschluss geben." (123) Auch auf neue Quellenfunde, die darauf deuten, dass von Seiten der Regierung Einfluss im Sinne einer militärischen Instrumentalisierung der Kerntechnik genommen worden wäre, sucht man vergebens. Es werden im Grunde genommen die lange bekannten Erinnerungen von Strauß, die nationalsozialistische Vergangenheit maßgeblicher Akteure aus Wirtschaft und Kerntechnik sowie die von Radkau bereits analysierten anfänglichen Reaktortypentscheidungen für die Projekte des Karlsruher Kernforschungszentrums als Argumente für das Überwiegen der militärischen Motive beim Aufbau der bundesdeutschen Atomwirtschaft herangezogen. Darüber hinaus finden sich viele rhetorische Fragen und Vermutungen, wie etwa die, dass die Bezeichnung Mehrzweckforschungsreaktor (MZFR) an den Terminus Mehrzweckwaffen angelehnt sein könnte. (162) Belege dafür, dass die wesentliche Motivationen nicht in der Euphorie über das "Füllhorn Kernenergie", der Forschungsbegeisterung, der Hoffnung auf preiswerte und saubere Energie und der Erschließung neuer Geschäftsfelder zu suchen sind, sondern vornehmlich in dem Streben zum Bau der Bombe, sind dies allerdings nicht.
Dabei sind die technischen Fakten, die auf waffentechnische Nutzungsoptionen als Motive für die bundesdeutsche Kernenergieentwicklung hindeuten, seit langem bekannt. Die im Karlsruher Forschungszentrum verfolgten Reaktorprojekte des FR 2 und des Mehrzweckforschungsreaktors (MZFR) sahen Natururan als Brennstoff und Schweres Wasser als Moderator vor. Ihre Zielsetzung war neben Forschungszwecken und der Stromerzeugung die Plutoniumproduktion. Das in den abgebrannten Brennelementen vorhandene Plutonium war jedoch zu extrahieren. Die Technik hierzu war die Wiederaufarbeitung. Das gewonnene Plutonium hätte seinen Einsatz in Kernwaffen oder im Schnellen Brüter finden können, welcher dem faszinierenden Traum eines energetischen Perpetuum mobile nahe kommen sollte, während der Energieproduktion neuen Spaltstoff zu erzeugen.
Auch Hanel sieht, dass die Chemische Industrie beim Aufbau der bundesdeutschen Kerntechnik eine herausgehobene Position hatte und vor allem daran interessiert war, billige Energie zu erlangen und sich neue Geschäftsfelder (Produktion von Schwerem Wasser, Wiederaufarbeitung) zu erschließen. Die Forschungsbegeisterung, die heute nicht mehr nachvollziehbaren Leitbilder vom "Füllhorn Kernenergie", den Willen, den Energiehunger durch billigen sauberen Atomstrom zu stillen, blendet Hanel jedoch vollkommen aus. Er fokussiert sich in seiner Analyse auf militärische Planspiele, in denen freilich nie direkt und konkret vom Aufbau einer westdeutschen Atomstreitmacht die Rede ist.
Auch die Skepsis der Energiewirtschaft, was die kurzfristigen und mittelfristigen Möglichkeiten der Kernenergie angeht, stützten Hanels These nicht, vielmehr scheinen aus der Perspektive von Energiewirtschaft und chemischer Industrie nukleares Großmachtdenken weniger wichtig gewesen zu sein als Hanel meint. Dass Arbeiten zu Wiederaufarbeitungsanlagen aus technikgeschichtlicher Sicht nicht herangezogen wurden [5], mag zu einer Verengung auf militärische Möglichkeiten geführt haben. Genauso wenig wie man aus dem konsequenten Fehlen jeglicher militärischer Nutzungsmöglichkeiten per se darauf schließen sollte, dass sie technisch nicht möglich oder denkbar waren, sollte man darauf verfallen, den holprigen Start der Wiederaufarbeitung in Deutschland und das Durchsetzen des Leichtwasserreaktors als Produkte einer auf die "Option Bombe" fixierten Forschungspolitik darzustellen. Gerade das Schicksal der Wiederaufarbeitung und der Siegeszug des Leichtwasserreaktors verdeutlichen, dass die bundesdeutsche Nuklearpolitik eben nicht vorrangig auf militärische Ziele, sondern auf die Etablierung eines kerntechnischen Gesamtsystems, auf den Kernbrennstoffkreislauf, angelegt war. [6] Ähnlich wie die ständige Vermutung militärischer Motive hat die Fixierung auf die Deutsche Atomkommission und die deutschen Atomprogramme dazu geführt, eine allzu geradlinige zielgerichtete Entwicklung der bundesdeutschen Kernenergiegeschichte zu entwerfen. Es ging jedoch weitaus chaotischer und keineswegs so geordnet zu. [7]
Hanel kommt das Verdienst zu, alle Argumente, die für die waffentechnische Option beim Aufbau der bundesdeutschen Kernenergiewirtschaft sprechen, zusammengetragen zu haben. Dadurch, dass er seinen Blick jedoch darauf beschränkt, zeichnet er einen Teilausschnitt der bundesdeutschen Kernenergiegeschichte und gibt anderen Interpretationsansätzen keinen Raum, so dass seine These letztendlich nicht überzeugen kann.
Anmerkungen:
[1] Mathias Küntzel: Bonn und die Bombe, Deutsche Atomwaffenpolitik von Adenauer bis Brandt, Frankfurt 1992.
[2] Eckart Conze: Griff nach der Bombe? Die militärischen Pläne des Franz Josef Strauß, in: Martin Doery (Hg.): Die Spiegel-Affäre. Ein Skandal und seine Folgen, München 2013, 69-85, Michael Knoll: Atomare Optionen. Westdeutsche Kernwaffenpolitik in der Ära Adenauer, Frankfurt am Main 2013. http://www.sehepunkte.de/2014/04/23989.html
[3] Joachim Radkau: Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945 bis 1975. Verdrängte Alternativen in der Kerntechnik und der Ursprung der nuklearen Kontroverse, Reinbeck 1983, 195, Ders. und Lothar Hahn: Aufstieg und Fall der deutschen Atomwirtschaft, München 2013, 122.
[4] Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR (Hg.): Das Bonner Atomwaffenkartell, Ziel, Methoden, Hintergründe. Berlin (Ost) 1969.
[5] Jean Marc Wolff: Eurochemic 1956-1990: Thirty-five Years of International Cooperation in the Field of Nuclear Engineering: The Chemical Processing of Irridiated Fuels and the Management of Radioactive Wastes, Paris 1996, Wolfgang Issel: Die Wiederaufarbeitung von bestrahlten Kernbrennstoffen in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt 2003.
[6] Joachim Radkau: Das überschätzte System. Zur Geschichte der Strategie- und Kreislauf-Konstrukte in der Kerntechnik, in: Technikgeschichte, 56 (1988) 3, 207-215.
[7] Joachim Radkau: Die Kernkraft-Kontroverse im Spiegel der Literatur, in: Armin Herrmann / Rolf Schumacher (Hgg.): Das Ende des Atomzeitalters? Eine sachlich-kritische Dokumentation, München 1987, 307-334, 314.
Anselm Tiggemann