Andrew Roberts: Napoleon the Great, London: Allan Lane 2014, XXXV + 936 S., 29 Kt., 86 Farbabb., ISBN 978-1-846-14027-3, GBP 30,00
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Lieben Sie Napoleon? Diese Frage mag im akademischen Kontext irrelevant sein, zur Bewertung der hier anzuzeigenden, 900-seitigen neuesten Biografie des Korsen aus der Feder Andrew Roberts' aber ist sie von elementarer Bedeutung.
Dies beginnt schon im Äußerlichen. Auf angerautem Edelpapier treten einem in heraldischer Anordnung und erhabenem Golddruck die Bonaparte-Bienen entgegen, ein auf gleiche Weise gestaltetes zentrales "N" umrahmend. Diese an offizielle Prunkalben des 19. Jahrhunderts gemahnende Aufmachung lässt unschwer den Grundtenor des umschlossenen Inhalts erahnen: eine Apologie Napoleons des Großen, so wie sie auch der Titel verheißt.
In den Augen (post-)moderner Wissenschaftskonzeptionen scheint umfassende Erschließung eines Gegenstandes mit gleichzeitig apologetischer Intention wenig kongruent. Doch schon wenige Zeilen Lektüre in dem vorliegenden Werk genügen, diese kritische Haltung eines Besseren zu belehren. Andrew Roberts gelingt es nicht nur ansatzweise, sondern durchgehend - und das ist bei dem erwähnten Umfang eine kolossale Leistung sui generis! -, den beiden Ansprüchen von publizistischer Wissenschaftlichkeit und der schon in der Einleitung überdeutlich belegten Wertschätzung für seinen Gegenstand zu entsprechen.
Nun mag es sich nach Einschätzung so mancher Leser mit Napoleon-Biografien so verhalten wie mit Gesamteinspielungen der Beethoven-Symphonien: bei beiden kann man sich mitunter nicht des Eindrucks erwehren, es gäbe schon genug davon. Doch just dieses Argument greift im vorliegenden Falle nicht, da Roberts, der in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten schon mit mancherlei einschlägigen und im Rückblick nun wohl als vorbereitend zu sehenden Veröffentlichungen von sich reden machte, mit dem anzuzeigenden Buch nicht nur quasi die Summe seiner Lebensarbeit, sondern tatsächlich auch den gewählten Gegenstand in einer bislang kaum erreichten Fülle präsentiert. In der besten Tradition angelsächsischer Biografik gesellt sich hier ein penibles und gründliches Quellenstudium zu überragender, sprachlich, rhetorisch und stilistisch einwandfreier Darstellung, nachvollziehbare Argumentation zu geisteshistorischer Perspektive, Detailwissen zu großräumiger Ein- und Verortung. Das Ergebnis ist brillant zu lesen, Anliegen und Sujet des Autors nehmen schon nach wenigen Seiten in einer geschickt projizierten Imagination des Lesers prägende und plastische Gestalt an. Roberts erreicht so ein in sich geschlossenes Napoleonbild, welches nur wenige seiner doch zahlreichen Vorgänger auf diesem historiografischen Felde so erzielen konnten.
Doch vor dem majestätisch glänzenden Strahl solcher Brillanz bleiben die Grundpfeiler des zugrundeliegenden Postulates, sprich: der immanente Bewertungsparameter, stets dominant sichtbar. Dieser kann knapp in drei Punkten zusammengefasst werden: Napoleon war grundsätzlich und in nahezu all seinen Initiativen genuin genial veranlagt; die erlittenen - inklusive der schließlich fatalen - Revers bilden davon lediglich punktuelle Ausnahmen oft in Verantwortung anderer; die Summe der napoleonischen Politik prägte quasi idealbildlich die Voraussetzungen für alle - positiv gesehenen - politischen und sozialen Phänomene der Folgezeit, von der Demokratisierung bis hin zu einem geeinten Europa.
Diese grundsätzliche Beobachtung sei keineswegs so verstanden, als ignoriere oder unterschlage der Verfasser alle Kritik und kritische Wertung. Allein - diese wird dem höheren Bild einer postulierten, unleugbaren historischen Größe untergeordnet.
Wie unschwer zu erkennen, entziehen sich schon von daher viele der in diesem Werk getroffenen Feststellungen einer objektiven Verifikation oder Beurteilung, da sie eben immanent mit bis heute wirkmächtigen geistesgeschichtlichen Tendenzen verbunden sind, welche selbst wiederum Gegenstand oft antagonistischer Wertungen bleiben.
Nur an sehr wenigen Stellen werden die a priori Festlegungen des Autors in unangenehmer Weise überdeutlich, hierfür seien nur drei, wiewohl sehr sprechende, Belegstellen herausgegriffen. Deren erste betrifft die Bedeutung der Entführung und Erschießung des Herzogs von Enghien 1804, welcher Roberts auffallender Weise nur zwei Seiten widmet (338f.). Mag es dabei noch hingehen, dass zur Rechtfertigung des Napoleonischen Vorgehens hier vage relevante Passagen zeitgenössischer französischer Gesetzestexte in extenso zitiert und auf die "anti-französischen" (gemeint ist natürlich: gegen die Republik bonapartistischer Prägung gerichteten, loyalistischen) Umtriebe des Adeligen immer wieder betont werden; die abschließende viel zu knappe Erörterung der weltweiten Folgen dieser Tat aber ist ebenso unzureichend, wie die bizarre Erwähnung der Tatsache, dass der Hund des Ermordeten, geziert von einer Schleife mit der Aufschrift "Ich gehörte dem unglücklichen Herzog von Enghien", in den Besitz des schwedischen Königs überging, eindeutig die Grenze des guten Geschmacks und der emotionalen Indoktrination überschreitet.
Ein zweites, nahezu identisches Exempel findet sich in der - wie zu erwarten - vernichtenden Beurteilung der Bourbonenpolitik nach 1815, wofür eine halbe Seite genügen muss. Diese endet mit der lapidaren Feststellung: "The hopes of the unreconstructed royalists died with Charles [X]" (816). Nicht nur ist diese Behauptung angesichts der immensen Bedeutung monarchischer Bewegungen für die französische Innenpolitik bis weit ins 20. Jahrhundert schlichtweg falsch - die bewusste Verwendung des Wortes "reconstructed" weckt bitterste Erinnerungen an den oftmals unter Kriegsrechtsbedingungen in den 1860er- und 1870er-Jahren im Süden der Vereinigten Staaten durchgeführten Umerziehungsterror (euphemistisch als "reconstruction" bezeichnet). Welche Analogien möchte Roberts hier insinuieren?
Der letzte entsprechende Verweis zielt schon mehr auf die Gesamtbeurteilung. Im Rahmen seiner Zusammenfassung, diese, wie das Buch selbst, mit "Napoleon the Great" überschrieben, kommt der Autor zwangsläufig auf die Fatalität des Russlandfeldzugs mit seinen Konsequenzen zu sprechen, welcher in allen Aspekten als gerechtfertigt und legitim gesehen wird und mit der Beobachtung endet: "Once in Moscow, he (...) had left enough time to get back to quarters in Smolensk, before it [the winter] became intolerable. But among the thousands of military decisions that he took, that one on the night of October 25, 1812 undid him" (814). Ist das ernst gemeint? Ansonsten keine falschen militärischen Entscheidungen von fataler Tragweite? Von Ägypten über Trafalgar bis Waterloo?
Lassen wir es bei dieser Auswahl bewenden und übergehen andere, hier aus Platzgründen nicht näher zu erörternden Besonderheiten, wie etwa das fast völlige Fehlen kulturgeschichtlicher Aspekte. Einige berühmte Maler werden mitunter erwähnt, maßgebliche Komponisten wie Paisiello, Haydn oder Cherubini aber völlig unterschlagen. Doch mag dies einer auch in dieser Textfülle sicher noch notwendigen Schwerpunktsetzung geschuldet sein.
Andere methodische Ausführungen, wie etwa das durchgehende Plädoyer für eine personen- und tatsachenorientierte Geschichtsschreibung gegenüber einem historiografisch-konzeptionellen, sozio-institutionellen Determinismus sind dagegen überaus begrüßenswert.
So kann das Résumé nur Vorhergesagtes wiederholen: eine profunde, glänzend geschriebene und vortrefflich dokumentierte Studie von eindeutiger inhaltlicher und wertender Ausrichtung, welche in mancherlei Hinsicht fast alle Vorgängerwerke übertrifft, dabei aber keines davon ersetzt oder überflüssig macht.
Die schlussendliche Beurteilung des Roberts'schen Monumentalwerkes aber wird sich immer an der eingangs gestellten Schlüsselfrage orientieren - lieben Sie Napoleon...?
Josef Johannes Schmid