Klaus Kempter: Joseph Wulf. Ein Historikerschicksal in Deutschland (= Schriften des Dubnow-Instituts; Bd. 18), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, 422 S., ISBN 978-3-525-36956-2, EUR 69,99
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Klaus Schönhoven: Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht. Das Schicksal der 1933 gewählten SPD-Reichstagsabgeordneten, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2017
Guenter Lewy: Harmful and Undesirable. Book Censorship in Nazi Germany, Oxford: Oxford University Press 2016
Sven Felix Kellerhoff: Hitlers Ende. Der Untergang im Führerbunker, Berlin: Berlin Story 2015
Felix Römer: Die narzisstische Volksgemeinschaft. Theodor Habichts Kampf 1914 bis 1944, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2017
André Postert: Die Hitlerjugend. Geschichte einer überforderten Massenorganisation, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021
Beata Dorota Lakeberg: Die deutsche Minderheitenpresse in Polen 1918-1939 und ihr Polen- und Judenbild, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2010
Elizabeth Harvey: "Der Osten braucht Dich!". Frauen und nationalsozialistische Germanisierungspolitik. Übersetzt von Paula Bradish, Hamburg: Hamburger Edition 2010
Andrzej Krzysztof Kunert: Polacy - Zydzi. Polen - Juden. Poles - Jews. 1939-1945. Wybór źródeł. Quellenauswahl. Selection of documents, Warszawa: Oficyna Wydawnicza Rytm 2001
Warum lohnt es, sich heute noch mit einem Historiker zu befassen, der für seine Kollegen kein Wegbereiter war? Der 1912 geborene Auschwitz-Überlebende Joseph Wulf war in den 1950er-Jahren der Erste, der in West-Deutschland ganze Bücher - Dokumentationen und (meist kürzere) Darstellungen - publizierte, um über den Nationalsozialismus und besonders über den nationalsozialistischen Judenmord aufzuklären. Die Deutschen lasen sie mit Interesse, aber sie zogen daraus keine Konsequenzen. Jedenfalls schien es Wulf so, als er sich im Oktober 1974 das Leben nahm.
Klaus Kempter beleuchtet in seiner Biografie Wulfs Werk und Leben, das keineswegs als durchweg tragisch zu bezeichnen ist. Doch ist es der Lebensweg eines Außenseiters, dessen Errungenschaften im Nachkriegsdeutschland seiner Zeit voraus waren. Damit verbanden sich Isolierung und ein Gefühl von Hilflosigkeit. Für Kempter ist daher "Wulfs Leben und Werk [...] ein Seismograf der Entwicklung vergangenheitspolitischen Denkens und Argumentierens in der Bundesrepublik" (14). Die wichtigsten Stationen im Leben von Wulf umreißen den geografischen Rahmen seines aufklärerischen Interesses: Geboren in Chemnitz, aufgewachsen in Krakau, deportiert nach Auschwitz, erkor er West-Berlin zur Wahlheimat, wo sein Lebenswerk entstehen sollte; selbst bezeichnete er sich gern als "galizischen Juden" (28). Begraben ist er in Tel Aviv.
Der Verfasser nutzt den umfangreichen Nachlass Wulfs im Heidelberger Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland, daneben kleinere Bestände in- und ausländischer Archive. Darüber hinaus betrachtet er das Werk Wulfs, das zunächst in Polen entstand, wo er gegen Kriegsende zu jenen (von Kind auf) jiddischsprachigen Überlebenden gehörte, die - im März 1945 - die Jüdische Historische Kommission in der Woiwodschaft Krakau ins Leben riefen. Mit Gleichgesinnten sammelte er Dokumente über den Judenmord sowie Zeugnisse und Überreste jüdischer Existenz, die die Katastrophe überdauert hatten. Wie etliche seiner Mitstreiter war er ein vielseitig - im Weltlichen und Religiösen - Gebildeter, der als Autodidakt zum Handwerk des Historikers fand. Ständig stand ihm seit 1945 die Mahnung der sechs Millionen Ermordeten vor Augen (65). Zunächst aber verließ er Polen unter dem Eindruck des Nachkriegsantisemitismus (88-94) - hier hätte ich mir ein weniger holzschnittartiges Eingehen auf die politisch verwickelten Zeitumstände gewünscht. Er war jeweils kurz in Schweden und Frankreich tätig, wo es ihm nicht gelang, beruflich Fuß zu fassen. Nachdem er ein Haus in West-Berlin zurückerhalten konnte, das seinem Vater gehört hatte, wechselte er abermals seinen Wohnsitz - nun bestrebt, die Geschichte der Schoah einer deutschen Leserschaft in Form einer Dokumentensammlung nahezubringen. "Ausrotten, ausrotten!" ist das längste Kapitel in seinem - gemeinsam mit Léon Poliakov erarbeiteten - fulminanten dokumentarischen Erstlingswerk 'Das Dritte Reich und die Juden' (1955) überschrieben, sein erster beruflicher Erfolg [1]; Übersetzungen ins Französische, Niederländische und Spanische folgten. [2] Doch Wulf beschränkte sich nicht auf die Perspektive der Täter, sondern nutzte auch Materialien der unmittelbaren Nachkriegszeit - insbesondere Aussagen von Zeitzeugen -, um das Geschehen zugleich durch das Prisma jüdischer Erfahrungen zu vermitteln.
Eigene Erlebnisse motivierten ihn: Als "verwöhnter Schöngeist" (39) aufgewachsen, schloss Wulf sich dem von zionistischen Jugendbewegten getragenen Widerstand an, ehe er für fast zwei Jahre Auschwitz überlebte, wie auch seine Frau Jenta und sein Sohn David - im Versteck und unter "arischer" Tarnung - die nationalsozialistische Schreckensherrschaft mit Not zu überstehen vermochten. Seine Eltern und andere Verwandte wurden ermordet - seine Mutter allerdings nicht 1943 in Bełżec, wie Wulf selbst glaubte (63), denn dieses erste Tötungszentrum im Generalgouvernement nahm nach Dezember 1942 keine Todestransporte mehr auf.
Der Hauptteil von Kempters Zeitstudie ist Wulfs Rolle in den (oben schon angekündigten) bundesdeutschen Unzuträglichkeiten und Verspannungen beim Umgang mit der NS-Vergangenheit vorbehalten. Zwei Bände mit NS-Dokumenten gab Wulf noch mit Poliakov gemeinsam heraus, seit den 1960er-Jahren zeichnete er allein verantwortlich, so für die monumentale fünfbändige Dokumentation 'Kunst und Kultur im Dritten Reich'. Als Spezialist gefragt war Wulf bei Hörfunk und Fernsehen, mit zahlreichen Vertretern der kulturellen und intellektuellen Elite West-Deutschlands schloss er Bekanntschaft, die Deutsche Forschungsgemeinschaft unterstützte Forschungs- und Publikationsvorhaben des Privatgelehrten. Der Zentralrat der Juden zeichnete ihn 1961 mit dem Leo Baeck-Preis aus, 1964 erhielt er die Carl-von-Ossietzky-Medaille, 1970 schließlich verlieh ihm Berlins Freie Universität die Ehrendoktorwürde.
Die Hoffnungen, die Wulf mit dieser Auszeichnung verband, erfüllten sich nicht. Bei den bundesdeutschen Historikern stieß der produktive Einzelgänger auf weitgehende Ablehnung. Die bundesdeutsche Zeitgeschichte wurde - insbesondere am Münchner Institut für Zeitgeschichte - vom Funktionalismus dominiert, bei dem persönliche Verantwortlichkeiten - Justiziables also - zweit- oder drittrangig waren. Die von den jüdischen Historikern in der Volksrepublik Polen publizierten, detaillierten und Großteils zuverlässigen Forschungen nahmen die Zeithistoriker in West- und Ost-Deutschland gewöhnlich nicht wahr (sie sind bis heute nicht auf Deutsch erschienen). "Der Mythos von der sauberen Wehrmacht" (220) war noch unüberwindbar, ebenso die Schlussstrich-Mentalität in weiten Teilen der Gesellschaft. Selbst Wulfs letztes Vorhaben, im "Haus der Endlösung" am Wannsee ein internationales Dokumentationszentrum einzurichten, scheiterte am Zeitgeist. Es dauerte noch zwei Jahrzehnte, ehe dort eine Gedenk- und Bildungsstätte geschaffen wurde.
Im Privaten warf ihn der Tod seiner lange schwer kranken Frau Jenta aus der Bahn. Hinzu kam die Sorge um Israel, das - wie er im August 1974 feststellte - "zur Zeit so isoliert ist wie die Juden 1939-1945". [3] An seinen Sohn in Paris schrieb er nun: "Ich habe hier 18 Bücher über das Dritte Reich veröffentlicht, und das alles hatte keine Wirkung. Du kannst Dich bei den Deutschen totdokumentieren, es kann in Bonn die demokratischste Regierung sein - die Massenmörder gehen frei herum, haben ihr Häuschen und züchten Blumen" (384).
In seiner Zeit - und am Ende auch seinem eigenen Empfinden nach - war Joseph Wulf ein Pionier auf verlorenem Posten. Jahrzehnte später erst hat sich das Bild grundlegend gewandelt. Heute ehrt die mittlere und jüngere Forschergeneration in Wulf ihren Vorläufer. Anders als seine Zeitgenossen zollen sie ihm Anerkennung, indem sie die - von Wulf bereits in Ansätzen vorweggenommene - "Täterforschung" etablierten. Erst nach Wulfs Tod begann man hierzulande, die antijüdischen Verbrechen jenseits der Reichsgrenzen zu erforschen und bei deren Darstellung auch jüdische Zeugnisse an zentraler Stelle mit einzubeziehen.
Durch seine jüdisch-polnische Sozialisation und die tödliche Bedrohung unter dem NS-Regime fühlte sich Wulf von dem Auftrag beseelt, die Menschen mit den vom Nationalsozialismus selbst hervorgebrachten Schriftstücken über dessen Verbrechen an der Menschheit aufzuklären. Damit schuf er das erste Schriftdenkmal für die Opfer in unserer Sprache. Dafür vor allem gebührt Wulf noch heute unser Dank - wie auch seinem Biografen, dem es gelungen ist, lebensgeschichtliche und wechselnde Zeitumstände des Gesamtwerks seines Protagonisten so kundig, einfühlsam und oft spannend zu beschreiben.
Anmerkungen:
[1] Eine Generation später erschien es noch als Lizenzausgabe und unveränderter Nachdruck in der Taschenbuchreihe Zeitgeschichte des Frankfurter Ullstein-Verlags (1983) und beim Wiesbadener Fourier-Verlag (1989 und 1995).
[2] Das Thema war in diesen Jahren Teil eines west-östlichen Wettstreits, und die ostdeutsche Antwort stand dem nicht nach: Tatiana Berenstein / Artur Eisenbach u.a. (Bearb.): Faschismus - Getto - Massenmord. Dokumentation über Ausrottung und Widerstand der Juden in Polen während des zweiten Weltkrieges, Berlin 1960 (auch Frankfurt a.M. 1962). Es handelte sich um die ergänzte und erweiterte Fassung der polnischen Ausgabe: Eksterminacja Żydow na ziemiach polskich, Warszawa 1957.
[3] Zit. nach Barbara Breysach: Verbrennen, Widerstehen, Aufdecken und Bewahren. Über Joseph Wulfs Wirken in Krakau, Paris und Berlin, in: Margrid Bircken / Helmut Peitsch (Hgg.): Brennende Bücher. Erinnerungen an den 10. Mai 1933, Potsdam 2003, 95-109, hier 100, URL: http://www.politische-bildung-brandenburg.de/publikationen/pdf/brennende_buecher.pdf (04.04.2014).
Klaus-Peter Friedrich