Catherine Gaullier-Bougassas / Margaret Bridges: Les voyages d'Alexandre au paradis. Orient et Occident, regards croisés (= Alexander Redivivus), Turnhout: Brepols 2013, 547 S., ISBN 978-2-503-54623-0, EUR 85,00
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Seit die Kritik der Postcolonial Studies den Blick auf die vielfältigen Austausch- und Transformationsprozesse im Kontakt der Kulturen gelenkt hat, sind im Sinne eines transkulturellen Zugriffs auf Geschichte Stichworte wie "Verflechtung", "croisement" und "entanglement" in aller Munde. Der von zwei Literaturwissenschaftlerinnen herausgegebene Band zu Alexandererzählungen zwischen Ost und West verortet sich genau dort: Unter dem Titel Les voyages d'Alexandre au paradis: Orient et Occident, regards croisés wird einer der beliebtesten Erzählstoffe der Vormoderne durch ungewohnte Perspektivkreuzungen neu aufbereitet. Diese Perspektivkreuzung findet dabei auf zwei Ebenen statt: Zum einen werden jüdische, christliche und muslimische Adaptionen der antiken Vorlagen miteinander konfrontiert. Zum anderen kommen in den 18 Beiträgen insgesamt 15 Autorinnen und Autoren aus der Romanistik, Anglistik, Germanistik, Geschichte, Judaistik, Russistik, Arabistik und Iranistik zu Wort.
Der in vier Teile untergliederte Band setzt mit einem Überblick der verschiedenen Transformations- und Adaptionsprozesse über die longue durée ein, der von den beiden Herausgeberinnen Catherine Gaullier-Bougassas (Romanistin, Lille) und Margaret Bridges (Anglistin, Bern) im Sinne einer erweiterten Einleitung selbst bestritten wird. Darauf folgt ein zweiter Teil, in welchem einzelne Aspekte dieser Perspektivkreuzzung vertieft werden. Ein dritter Teil widmet sich den transzendenten Welten des Alexander anhand von Texten, Karten und Darstellungen, während der vierte Teil die Alexanderfigur als politische und durchaus streitbare Persönlichkeit thematisiert. Auch an diesen Teilen haben die beiden Herausgeberinnen als Autorinnen mitgewirkt.
Besonders wertvoll für die Gesamtanlage des Bandes ist zweifellos der tour d'horizon von Catherine Gaullier-Bougassas gleich zu Beginn, der die Eigenheiten der verschiedenen Überlieferungstraditionen idealtypisch herausarbeitet und damit einerseits das Feld für die nachfolgenden Einzelstudien bestellt und andererseits deren Teilergebnisse im Sinne einer Synthese verdichtet und zusammenführt. Ausgehend von den zwei Ursprungslegenden des 5. Jahrhunderts - dem griechischen Pseudo-Kallisthenes und dem Tamid-Traktat aus dem babylonischen Talmud - werden die unterschiedlichen Rezeptionsgeschichten nachgezeichnet. So wird deutlich, dass Alexanders Suche nach dem Wasser des Lebens und sein Streben nach Unsterblichkeit in den byzantinisch-slawischen Adaptionen zunehmend marginalisiert wurde (19), während dies in den arabischen und persischen Fassungen eine zentrale Achse des Erzählstoffs darstellte (22). Und während die östlichen Adaptionen christlicher und muslimischer Ausrichtung von Byzanz und der Kiewer Rus' über das christliche Syrien und die arabisch-persische Welt bis hin nach Äthiopien Alexander als konvertierten Herrscher imaginierten, der sich für die Verbreitung der monotheistischen Lehre einsetzte, hielt die lateinische Fassung, der "Iter ad Paradisum" aus dem 12. Jahrhundert, zusammen mit allen darauffolgenden vernakular-sprachlichen Adaptionen Westeuropas an der Alterität des antik-heidnischen Helden Alexander fest (45).
Auf der Grundlage dieses Überblicks werden in der Folge einzelne Aspekte vertieft und weitere Spezifika herausgearbeitet. So führen beispielsweise Catherine Gaullier-Bougassas, Margaret Bridges und Jean-Pierre Rothschild in Einzelstudien vor, wie der Alexanderstoff im theologisch-kirchlichen Diskurssystem der christlich-lateinischen Welt exempla-Sammlungen belieferte und zur theologischen Unterweisung verwendet wurde (50, 69, 120ff). Marco di Branco zeigt eindrücklich, wie Alexanders Besuch im Paradies - ein Kernelement der byzantinischen Tradition - aus den arabisch-muslimischen Adaptionen verschwand und die Völker Gog und Magog ebenso wie das Gebirge an Bedeutung gewannen. Überzeugend kann er außerdem nachweisen, dass die arabischsprachigen Alexandererzählungen keinesfalls (wie bislang angenommen) allein auf griechisch-byzantinischen Vorlagen basierten, sondern für zentrale Elemente auch auf vorislamisches Erbe zurückgriffen (137ff.).
Substantielle Erweiterungen erfährt die transkulturelle Perspektivkreuzung dieses Bandes auch durch den judaistischen und den slawistischen Beitrag. So hebt René Bloch neben dem babylonischen Talmud vor allem die Bedeutung des römisch-jüdischen Historiographen Flavius Josephus hervor, der als Zeitzeuge der zweiten Tempelzerstörung im Jahre 70 eine Verbindung zwischen dem historischen Alexander und der jüdischen Geschichte konstruierte, um Jerusalem als heiligen Ort des Judaismus zu bestätigen und gleichzeitig Alexandrien als legitimes Domizil der Juden zu etablieren. Elena Koroleva ihrerseits weist auf eine Originalität der russischen Überlieferung hin: Alexanders Fahrten in die Lüfte und ins Meer, die allein in russischer Sprache überliefert sind, stehen sinnbildlich für dessen vergebliche Suche nach Unsterblichkeit. Mit ihrer französischen Übersetzung der beiden zentralen Texte der russischen Alexandertradition macht sie diese Erzählungen außerdem erstmals einer breiteren Wissenschaftsgemeinschaft zugänglich. Anna Caughey und Emily Wingfield bereichern den Band schließlich um einen wichtigen Aspekt der westlichen Alexandertradition, der in diesem Band sonst gar keine Erwähnung findet: die Konstruktion von Ursprungsmythen und Herkunftserzählungen. Am Beispiel der schottischen Unabhängigkeitskriege wird vorgeführt, wie sich Briten und Schotten jeweils als Nachfolger der Trojaner und der Griechen imaginierten und antike Kriegsherren für die Heroisierung der eigenen Anführer instrumentalisiert wurden.
Zusammenfassend lässt sich Folgendes festhalten: Alexander der Große interessiert hier nicht als geschichtliche Persönlichkeit, sondern als literarische Figur. Es handelt sich um eine literaturwissenschaftlich ausgerichtete Rezeptionsgeschichte, die der interreligiösen Anschlussfähigkeit und transkulturellen Verbreitung des Erzählstoffs über herkömmliche Fächergrenzen hinweg nachgeht. Schmerzlich vermissen werden die Leser_innen einen byzantinistischen Fachbeitrag, spielte doch gerade Byzanz in der Verbreitung des griechischen Pseudo-Kallisthenes nach West und Ost und in christliche ebenso wie in muslimische Autorenkreise hinein eine Schlüsselrolle. Auch ein dezidiert kunsthistorischer Beitrag zu den verschiedenen Bildtraditionen des Alexanderstoffes hätte dem Band gut getan. Insgesamt jedoch werden durch den transkulturellen Zugriff in der Tat neue Perspektiven eröffnet und überkommene Lesarten hinterfragt. Das Resultat ist deshalb durchaus zur Lektüre zu empfehlen.
Juliane Schiel