Hans-Joachim Schmidt / Martin Rohde (Hgg.): Papst Johannes XXII. Konzepte und Verfahren seines Pontifikats (= Scrinium Friburgense; Bd. 32), Berlin: De Gruyter 2014, 546 S., div. Abb., ISBN 978-3-11-033250-6, EUR 119,95
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Johannes XXII. gilt als einer der umstrittensten Päpste der avignonesischen Zeit und man kann den Herausgebern und Autoren des vorliegenden Sammelbandes keinesfalls den Vorwurf machen, sie hätten sich ein bequemes Thema für ihr Unterfangen herausgesucht. Horst Fuhrmann sah in ihm einen "fast zur Karikatur gediehenen Petrusnachfolger" [1], bezugnehmend auf das wenig glückliche Agieren in den weltlichen Konfliktfeldern und theologischen Debatten der Zeit. Die aktuelle Forschung bemüht sich derweil um eine differenziertere Herangehensweise, wozu auch dieser Band zu zählen ist, der auf eine Tagung im Jahr 2012 in Fribourg zurückgeht. Den Organisatoren und Herausgebern ist es gelungen, eine beeindruckende Auswahl an Experten zu versammeln, die sich mehrheitlich bereits einen Namen mit Arbeiten zu Johannes XXII. und seinem Umfeld gemacht haben. Entsprechend kann neben dem obligatorischen Hinweis auf die defizitäre Erforschung des Papstes und auf das Fehlen einer konzisen Abhandlung auf eine Rekapitulation der jüngeren Forschung verzichtet werden. Hier genügt der Blick in das Inhaltsverzeichnis.
Wie der Titel schon andeutet, ist es das Ziel, Konzepte und Verfahren des Pontifikates herauszuarbeiten, also Strukturen, Handlungsmöglichkeiten und Handlungsmuster jenseits von Person und Persönlichkeit des Papstes. Es sei vorweggenommen, dass dieses Versprechen nicht eingehalten werden konnte, denn die behandelten Themen waren doch vornehmlich persönlich geprägt. Der Band ist in vier Themenblöcke untergliedert ('Theologische und philosophische Konzepte', 'Praxis von Macht'Verwaltung und Repräsentation', 'Johannes XXII. und die europäischen Mächte', 'Geschichtsschreibung und Erinnerung'), die sich in Umfang und Qualität durchaus unterscheiden. Ein knappes Personen- und Ortsverzeichnis beschließt den weitestgehend gut redigierten Band. Erstaunlich ist nur die mehrfache Diskrepanz zwischen der einleitenden Zusammenfassung der Artikel und dem folgenden Inhalt.
Patrick Nold eröffnet den Beitragsreigen durchaus programmatisch mit der charmanten Feststellung: "John XXII was not a stupid man" (17). Es gelingt, das hohe Reflektionsniveau des Papstes herauszuarbeiten, was eine erfreuliche Ergänzung des bislang in der Forschung dominierenden affektiven Charakters Johannes' XXII. darstellt. Patrick Nold zeigt dies an der differenzierten Auseinandersetzung des Papstes mit Schriftlichkeit, insbesonders mit theologischer Literatur und betont die Bedeutung gelehrter Meinung. William Duba belegt auch im Umfeld des Papstes eine gestiegene theologische Diskussionsbereitschaft, während Frank Godthardt einen Perspektivenwechsel vollzieht und in etwas kleinteiliger Weise den Papst-Kaiser Konflikt sowie den Italienzug Ludwigs des Bayern vor dem Hintergrund der päpstlichen Auseinandersetzung mit Marsilius von Padua rekapituliert.
Gleich zu Beginn des zweiten Teils, der etwas ungelenk mit "Praxis von Macht" betitelt wurde, kann Melanie Brunner anhand von vier monastischen Fallbeispielen ein glaubhaftes Interesse des Papstes an strukturellen Reformen belegen, wobei sie keinesfalls das Bild eines Reformpapstes zu schaffen versucht. Blake Beattie erkennt eine ausgeprägte juristische Kultur am päpstlichen Hof, die sich auf verschiedene Bereiche und Diskurse auswirkte und auf die neue personale Situation an der Kurie zurückzuführen ist. Hier ist eine Abkehr von der auf den Papst zentrierten Sichtweise zu erkennen, was auch Roberto Lambertini fortführt, der mit italienischen Fallstudien Möglichkeiten und Grenzen des politischen Inquisitionsprozesses aufzeigt. In den Bereich des Benefizialwesens reichen die folgenden Beiträge, wobei man Andreas Schmidts Weg vom Widerruf der Reservationen am Sterbebett des Papstes durch das thematische Dickicht von Kirchenrecht und Kanzleibüchern nur schwerlich folgen kann. Kerstin Hitzbleck bemüht sich erfolgreich, aber etwas zu plastisch formuliert, um die Relativierung historischer Urteile zum umstrittenen Feld der Provisionspraxis. Die rechtlichen Strukturen des Provisionssystems zeigen ein Bewusstsein für die Verantwortung für den Gnadenschatz und legen ein gerechtes Agieren des Papstes nahe. Ebenso wie Kerstin Hitzbleck bietet auch Gottfried Kerscher in großen Teilen eine Zusammenfassung seines sehr lesenswerten Werkes zum Papstpalast in Avignon. Er verbindet souverän die baulichen Befunde mit weiteren Quellen und verknüpft dies mit Fragen nach Funktionalität und Zeremoniell. Johannes XXII. griff die örtlichen Gegebenheiten auf und schuf zunächst ein heterogenes Gebilde, das aber nicht als Provisorium diente, sondern als voll ausgebildeter Sitz des Papsttums und Grundstein der späteren Palastanlage. Bedauerlich bei diesem Beitrag ist nur, dass auf Anmerkungen und Belege weitestgehend verzichtet wurde, was in der Gesamtschau des Bandes irritiert.
Die Frage nach der europäischen Politik Johannes' XXII. beschränkt sich auf wenige Regionen, aber im Vordergrund stehen auch grundsätzliche Überlegungen, wie diejenigen Martin Kaufholds, der vor falschen (modernen) Erwartungen an die Intention und das Vermögen päpstlicher Politik warnt. Er erkennt im Vorgehen der Kurie im anglo-schottischen Konflikt sowie in der eigenen Auseinandersetzung mit Ludwig dem Bayern gewisse Parallelen, aber vor allem wirft er die sehr bedenkenswerte Frage auf, ob das Papsttum generell einen konkreten Gestaltungswillen neben einem grundsätzlichen Ordnungsanspruch hatte. Allzu disparat sei doch das Verhältnis beider Größen. Dem lässt sich der Beitrag von Jens Röhrkasten gegenüberstellen, der in seiner Studie der englischen Politik Johannes' XXII. von einer grundsätzlichen Motivation des Papstes ausgeht, eine stabile politische Ordnung in Westeuropa zu schaffen, was nach den vorangehenden Ausführungen zumindest fraglich erscheint. Gleichwohl analysiert er konzise die Beziehungen zwischen der Kurie und dem englischen Königreich unter Edward II. und Edward III., indem er neben der Kirchenpolitik die Krisen und Konflikte in den Blick nimmt. Hier ist ein Wandel der anfänglich guten Beziehungen zu bemerken, während England gegenüber anderen europäischen Aufgabenfeldern zunehmend in den Hintergrund rückt.
Diese Beiträge umklammern die Ausführungen von Armand Jamme über die italienische Politik, respektive die Legation Betrand du Pougets nach Italien - einem Feld von doch erheblichem Eigeninteresse - sowie die Betrachtung der Beziehungen Avignons und Aragons von Hans-Joachim Schmidt, die durchaus von Spannungen geprägt waren. Trotz personaler Nähe und gleicher Interessenslage gingen die Positionen beider Parteien des Öfteren auseinander. Der Verfasser wählt einen angenehmen Blick von außen auf die Kurie - wohl auch quellenbedingt, da die Berichte der aragonesischen Gesandten als Hauptzeugen fungieren. Allerdings wird diesen bisweilen zu viel Gewicht und Glaubwürdigkeit beigemessen. Zudem bleibt fraglich, ob das für die Gesandten Aragons schwierig zu verstehende Schwanken des Papstes zwischen Sympathie und Antipathie als "Strategie des 'double mind'" (348) im diplomatischen Spiel gedeutet werden kann.
Der letzte Teil des Bandes über das Bild des Papstes in der Geschichtsschreibung bietet vornehmlich kundige Quellenstudien. Heike Johanna Mierau weist einen Weg durch das Überlieferungsdickicht zur Textgeschichte der Nikolaus Minorita zugeschriebenen Chronik. Georg Modestin vergleicht die Chronik Heinrichs von Diessenhofen mit zahlreichen anderen Autoren und veranschaulicht deren Position gerade mit Blick auf die Trias von Papsttum - Wittelsbachern - Habsburgern, wobei er differenziert die Kritik der Chronisten relativiert und Aspekte wie die eigene Anschauung und Kurienerfahrung herausstellt. Abschließend geht Michail Bojcov auf Geisterjagd, untersucht Tod und Bestattung des Papstes und widerlegt die lange tradierte Geschichte einer sitzenden Aufbahrung.
Was wissen wir nun neues über diesen Papst und sein Pontifikat? Auch wenn nur wenige Verfahren herausgestellt werden konnten und Konzepte generell in Frage gestellt wurden, so ist es den Autoren doch gelungen, eine ganze Reihe von roten Fäden zu ziehen. Avignon rückt als Ort der Entscheidungsfindung zunehmend in den Mittelpunkt, während Strukturen geschaffen wurden, um päpstliche Politik auch in entlegenen Kirchenprovinzen Europas umzusetzen - nur der Erfolg war natürlich begrenzt, wenn diese auf lokale Interessen stieß. Der Papst selbst wird durchweg angenehm unvoreingenommen porträtiert - ohne dabei aber einen neuen Helden zu schaffen. Es zeigt sich in vielerlei Hinsicht ein beachtliches Reflexionsniveau in den zeitgenössischen Debatten, das Bild des impulsiven und starrsinnigen Papstes findet zunehmend Relativierung. Auch der Papst-Kaiser Konflikt findet eine Verortung, ohne zum alles dominierenden Thema zu werden. Besonders interessant wird der Band dann, wenn grundsätzliche Fragen nach etwaigen Intentionen angesprochen und nicht nur Möglichkeiten diskutiert werden. Wie definierte der Papst das Amt, das er ausübte, welche Ansprüche formulierte er und wie weit ging das Bestreben (nicht nur das Vermögen), dies in der Praxis umzusetzen? Gerade letzteres muss wohl zurückhaltend beantwortet werden.
Der Band enthält allerlei lehrreiches, relativiert ältere Urteile und regt zum Weiterdenken an. Nicht jeder Beitrag ist ein Genuss, da manches etwas weitläufig und allzuviel Bekanntes wiederholt wird, aber die Gesamtheit stellt doch eine große Bereicherung für die Geschichte dieses Papstes und des frühen avignonesischen Papsttums dar.
Anmerkung:
[1] Horst Fuhrmann: Die Päpste: von Petrus bis Benedikt XVI., München 2012, 153.
Sebastian Tobias Zanke