Raymond Stokes / Ralf Banken: Aus der Luft gewonnen. Die Entwicklung der globalen Gaseindustrie 1880 bis 2012, München / Zürich: Piper Verlag 2014, 463 S., 55 s/w-Abb., ISBN 978-3-492-05681-6, EUR 29,99
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Branchenstudien sind gegenüber den Einzelfallstudien innerhalb der Wirtschaftsgeschichte in der Minderheit. Umso erfreulicher ist es daher, wenn Branchen unter die Lupe genommen werden, die bisher kaum im Fokus der Forschung standen. Die beiden ausgewiesenen Wirtschafts- und Unternehmenshistoriker Raymond G. Stokes und Ralf Banken wurden von der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte beauftragt, eine Studie zur Entwicklung der internationalen Gaseindustrie seit ihren Anfängen im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts anzufertigen. Herausgekommen, dies sei vorweggenommen, ist eine hervorragende und vor allem gut lesbare Arbeit, obwohl der Untersuchungsgegenstand zunächst anderes vermuten lässt. In zehn chronologischen Kapiteln untersuchen die beiden Autoren vor allem die europäische und nordamerikanische Gaseindustrie, wenngleich der japanische und chinesische Markt sowie die Situation im sowjetischen Einflussbereich am Beispiel der DDR Berücksichtigung finden.
Den roten Faden der ambitionierten Grundlagenforschung bilden die Fragen nach Internationalisierung der zunächst kleinen Unternehmen und im späteren Zeitverlauf dann globalen Konzerne sowie den, klassischerweise in der Unternehmensgeschichte untersuchten, Innovationen und Strategien der Schlüsselfirmen (13).
Bevor einzelne Unternehmen näher untersucht werden, beschreiben die Autoren den für Geisteswissenschaftler komplexen Untersuchungsgegenstand: Die Verflüssigung der Luft ist vereinfacht ausgedrückt Kern der Industriegase-Unternehmungen. Zunächst gelang es, Sauerstoff zu filtern und bereit zu stellen, dann kamen andere Gase wie Argon und Kohlendioxyd hinzu.
Der Zeitraum vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise bestimmte vor allem die Expansion der Gasebranche. Bestehende Unternehmen wie Linde erzielten hohe Wachstumsraten, während es gleichzeitig zu zahlreichen Neugründungen am Markt kam. Zwar gab es auch für andere Gase als Sauerstoff, Acetylen und Stickstoff beispielsweise, Anwendungsmöglichkeiten, "doch das größte Wachstumspotenzial zeigten die neuen Anwendungen für Traditionsprodukte" (110). Ähnlich wie in anderen Branchen war die Gaseindustrie bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs stark segmentiert. Erst ab Anfang der 1930er-Jahre kam es zu wegweisenden Veränderungen: Der Einsatz hochreinen Sauerstoffs in großem Maßstab stelle eine technische Innovation erstes Ranges dar. Wenngleich nicht auf den ersten Blick erkennbar, war die Gaseindustrie für die Rüstungsbestrebungen in Europa in der Zwischenkriegszeit von entscheidender Bedeutung. Ohne "Industriegase wäre die Rüstungs- und Munitionsproduktion unmöglich gewesen" heben Stokes und Banken hervor (148). Darüber hinaus waren die größten Unternehmen der Branche: Linde, Griesheim und Messer in die Verbrechen des NS-Regimes involviert. Alle drei Unternehmen beschäftigten Zwangsarbeiter in ihren Werken; Linde "lieferte der berüchtigten I.G. Farben-Fabrik in Auschwitz Sauerstoffanlagen" (147).
Die internationale Industriegasbranche stand nach dem Zweiten Weltkrieg und in den 1950er-Jahren vor den bisher größten strukturellen Veränderungen, denn mit der US-amerikanischen "Air Products" etablierte sich ein Branchenneuling und schaffte es, "sich mit ebenso mutigen wie kreativen Strategien innerhalb kurzer Zeit einen beträchtlichen Marktanteil zu sichern" (175). Es gelang Air Products zwar, die Marktführer aus Europa herauszufordern, eine generelle Änderung der Geschäftspraktiken stellte sich jedoch nicht ein: Marktabschottung durch traditionelle Gentlemen's Agreements und Sicherung eines hohen Preisniveaus waren nach wie vor tonangebend. Erst in den 1960er-Jahren wurden diese verkrusteten Strukturen aufgebrochen. Allen voran der Markteintritt durch Air Products in Großbritannien sorgte für die schrittweise Aufhebung der Aufteilung nationaler Märkte, einer bis dahin unter westeuropäischen Unternehmen dieser Branche gängige Praxis. Die westeuropäischen Gasproduzenten waren in der Folge zum Handeln und Umdenken gezwungen. Einerseits wurden die Bemühungen auf den heimischen Märkten massiv verstärkt, um die Angriffe aus den USA abzuwehren und nicht noch weitere Marktanteile zu verlieren und andererseits zur verstärkten Konzentration auf die internationalen Märkte, besonders ab Mitte der 1970er-Jahre. Zwar konnte auch in den 1980er-Jahren noch nicht von einem Weltmarkt gesprochen werden, aber die Grundlagen für eine immer stärkere internationale Ausrichtung des Industriegasmarktes waren seit den 1960er-Jahren gelegt worden (215). Die USA waren dabei für die westeuropäischen Gasproduzenten der wichtigste Markt, hatte hier der wichtigste Konkurrent Air Products seine Basis und motivierte dessen Griff nach dem "Heimatmarkt" der BOC in Großbritannien gerade die BOC zum forcierten Angriff auf den US-Markt. Dieser Trend setzte sich auch in den Folgejahrzehnten fort, wenngleich eine Entwicklung sich, trotz zunehmender Internationalisierung, nicht änderte: Keinem der acht Branchenriesen gelang es, auf einem ausländischen Markt erfolgreicher zu sein, als auf dem heimischen Markt. Nicht zuletzt die hohen Kapitalinvestitionen bei der Durchdringung ausländischer Märkte sorgten für begrenzte Gewinne im Vergleich zu den nationalen Markterfolgen. An der Grundstruktur änderte sich, trotz einiger Joint Ventures und Übernahmen, erst Anfang der 2000er-Jahre Grundlegendes: Durch Fusionen reduzierte sich die Zahl der dominierenden Unternehmen von acht auf fünf. Ab 2009 vereinigten die fünf größten Industriegasproduzenten 83% der Verkaufserlöse durch Industriegas auf sich (356).
Die beiden Autoren haben eine sehr lesenswerte Studie zu einer bisher von der Forschung nicht beachteten Branche vorgelegt. Entlang zugespitzter Fragestellungen über einen langen Zeitbogen werden sehr treffend die Charakteristika der Branche im Zeitverlauf deutlich. Die lange Lebensdauer einiger Protagonisten sowie die Strukturveränderungen im Zuge der Internationalisierung nach 1945, werden stimmig und stringent analysiert. Künftige unternehmenshistorische Branchenstudien sollten sich an dieser Arbeit orientieren.
Benjamin Obermüller