Keith Lowe: Der wilde Kontinent. Europa in den Jahren der Anarchie 1943-1950. Aus dem Englischen übersetzt von Stephan Gebauer und Thorsten Schmidt, 2. Auflage, Stuttgart: Klett-Cotta 2014, 526 S., 29 Abb., ISBN 978-3-6089-4858-5, EUR 26,95
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Buchautoren legitimieren ihre Publikationen zumeist mit neuen, vernachlässigten Sichtweisen. In diesem Sinne stört sich der britische Sachbuchautor Keith Lowe an der Aussage, der Zweite Weltkrieg habe mit der bedingungslosen deutschen Kapitulation im Mai 1945 geendet, dann habe es Frieden gegeben. "In Wirklichkeit beendete die Kapitulation Deutschlands lediglich einen Aspekt der Kämpfe. Die damit zusammenhängenden ethnischen, nationalen und machtpolitischen Konflikte gingen vielfach noch Wochen, Monate und manchmal sogar Jahre weiter." (444) Ersteres ist kaum zutreffend, oder doch höchstens für die britische Seite, wo das zunächst 2012 veröffentlichte Buch auf die Bestsellerlisten gelangte. In Deutschland, wo das Buch zwei Jahre später erstmals erschien, waren dagegen Zerstörungen, Flucht, Vertreibungen sowie die unterschiedlich gewaltsame Besatzungspolitik der Alliierten immer stärker präsent. "Nachkrieg" war hierfür Klaus Naumanns ambivalenter Begriff [1] vor etlichen Jahren: Darin steckte immer die Fortsetzung des Krieges, in welcher Brechung auch immer.
Lowe hat ein dicht recherchiertes und sehr lesbares Buch geschrieben. Ihm geht es um die andauernden Kriegs-, Bürgerkriegskämpfe, um Not, Gewalt und Horror aller Art. Im Kern hat der Autor einen gesamteuropäischen Blick. Das heißt, er bezieht auch Westeuropa ein und damit sein eigenes Land. Osteuropa war jedoch weiterhin der eigentliche zentrale Kampfraum. Die deutsche Herrschaft war überall zerbrochen, aber unter dieser oft brutalen Besatzungsherrschaft und zerstörerischen Kriegführung bis 1944/45 (von beiden Seiten) hatten sich lang angelegte nationale, ethnische, soziale Konflikte aufgeladen, die nun häufig in neuer Form und erst recht gewaltsam auflebten. Einiges richtete sich gegen die (Wieder-)Errichtung sowjetischer Herrschaft, anderes beruhte aber auf genuin anderen Konflikten.
Lowe bezieht auch Gefühle ein; vor allem "Rache", wie eines seiner Großkapitel benannt ist, bildet das Schlüsselwort. "Vergeltung" würden andere lieber sagen. Er greift, wo nötig, bis auf die Brutalität des Weltkrieges selbst zurück, arbeitet heraus, dass die Frontenwechsel der deutschen Verbündeten, der Rückzug der Wehrmacht z. T. schon in den Jahren 1943/44 lagen und konzentriert sich dann doch im Kern auf das Jahr 1945. Die "dingliche Welt" war weitgehend zerstört, auch moralische Werte waren weitgehend außer Geltung gekommen. Die Rolle des Kriegstods, der Abwesenheit vor allem der Männer im Krieg und Gefangenschaft, aber auch Tod und Vernichtung von großen Teilen bisheriger Eliten, der Juden voran, schuf eine der Voraussetzungen für diese andauernde Gewalt. Lowe macht das auch an Frankreich, Italien und Norwegen fest.
Aber im Kern stehen doch die weiteren militärischen, oft verdeckten Kämpfe. Am bekanntesten sind wohl die in und um das wieder errichtete Jugoslawien, wo Ustaschas, Cetniks und kommunistische Partisanen um Tito kämpften - aufgeladen durch die unterschiedlich einflussreichen Alliierten. Auch in der Zone der von Timothy Snyder so genannten "Bloodlands" [2] gingen brutale Kämpfe lange weiter, vor allem in der Westukraine, dem vormaligen Ostpolen, sodann in den baltischen Staaten, die der Sowjetunion (wieder) angegliedert wurden. Die dort zum Teil jahrzehntelang weiterkämpfenden "Waldbrüder" sind hierzulande wenig bekannt. Schließlich geht es um den griechischen Bürgerkrieg, der bis in die späten vierziger Jahre wütete. Es gab Herrschaftsdurchsetzung, Umsiedlungen von sowjetischer Seite her veranlasst - aber darauf ließen sich die Gewaltaktionen nicht reduzieren.
Eine große Rolle nehmen die vielfältigen Displaced Persons ein. Unter diesen kam befreiten Juden, die als Überlebende z. T. erst jetzt aus Osteuropa flohen, eine wichtige Rolle zu. Ethnische Säuberungen bilden hier das Stichwort. Nicht zuletzt kommt die Vertreibung der Deutschen als quantitativ größte Gruppe zur Sprache - nicht nur von Deutschen aus den abgetrennten Ostprovinzen oder von den Sudetendeutschen, sondern von "Volksdeutschen" aus weiteren Teilen Ostmitteleuropas. In einigen Fällen liefert Lowe eindrucksvolle Länderstudien- etwa zur kommunistischen Durchsetzung in Rumänien oder über die politische Gewalt in Italien (wie in Frankeich). Das ist fast flächendeckend und in dieser Form zumindest in breiteren Kreisen nicht geläufig.
Lowe hat breite Forschungsliteratur ausgewertet, auch deutsche, was nicht selbstverständlich ist. Manches an zentraler wissenschaftlicher Literatur etwa auf Deutsch vermisst man dennoch. Über weite Strecken reiht das Buch Horrorberichte aneinander. Ohne dass die Grundrichtung solcher Zeitzeugenaufzeichnungen bezweifelt werden könnten, vertraut der Verfasser. hier aber doch häufig zu sehr auf diese. Zu Recht spricht er gelegentlich von den Legendenbildungen aller Seiten über die Partisanen und ihre Gegenspieler, nur an wenigen Stellen gesteht er aber selbst die Unzuverlässigkeit von Augenzeugen zu (184) oder meint, der Wahrheitsgehalt von zitierten Quellen ließe sich nicht überprüfen (182).
Angesichts dieser Addition von Anschauungsmaterial kommt die Analyse der politischen Rahmenbedingungen, der rechtsförmigen und teilweise auch frühen rechtsstaatlichen Bemühungen, der Wille zum Helfen und die früh ansetzenden lokalen, regionalen, nationalen Aktionen zum Wiederaufbau und zur Linderung von Not, ja es kommen auch die übergreifenden europäischen Perspektiven ein wenig zu kurz. Begriffe wie "Kultur des beiläufigen 'Gelegenheits-Sadismus'" leuchten ein, erklären aber letztlich zu wenig. Wenn - was mir nicht klar geworden ist - der Autor nicht von einer anthropologischen Gewaltneigung ausgeht, sondern Gewalt in sozialen und kulturellen Situationen verortet findet, dann sind diese ebenso wie die politischen Zusammenhänge über weite Strecken deutlich unterbelichtet. Von einem "wilden Kontinent" ("savage continent"), wie im Titel genannt, wird man da und dort schon sprechen können. Anarchie herrschte gewiss zeitweilig und regional - aber den ganzen Kontinent unter den Begriff Anarchie zu stellen, wird den Realitäten wohl kaum gerecht.
Noch ein weiteres Element ist zu kritisieren: Lowe stellt bei den Vorgängen in Ostmitteleuropa vor allem den Kampf nationaler Kräfte und Partisanen gegen kommunistische und andere Herrschaftsbestrebungen in den Vordergrund. Deren Eigensinn während der Kollaboration mit den Deutschen (oder auch nicht!) wird dabei stark herausgestrichen. Ian Burumas bei uns zeitgleich erschienenes Buch mit globalem Anspruch, der gleichfalls starke Beispiele einer Geschichte von unten bietet, hat diese Ambivalenzen einleuchtender herausgearbeitet. [3] Angesichts der nach Erscheinen der britischen Version 2012 mit den Krisen um die Ukraine von russischer Seite forcierten neuen Debatten über "Faschisten" dort und anderswo wäre eine Differenzierung dieser und ähnlicher Begriffe sinnvoll und nützlich gewesen. Dennoch: ein lesenswertes, zum Teil anrührendes Buch liegt vor, das auch in Deutschland viele Leser gefunden hat.
Anmerkungen:
[1] Klaus Naumann (Hg.): Nachkrieg in Deutschland, Hamburg 2001.
[2] Timothy Snyder: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München 2011. Vgl. die Rezension, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 10; URL: http://www.sehepunkte.de/2012/10/20310.html
[3] Ian Buruma: '45: Die Welt am Wendepunkt, München 2014.
Jost Dülffer