Stefan Litt (Hg.): Jüdische Gemeindestatuten aus dem aschkenasischen Kulturraum 1650-1850 (= Archiv jüdischer Geschichte und Kultur; Bd. 1), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, 562 S., ISBN 978-3-525-31015-1, EUR 130,00
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Ab der Frühen Neuzeit entstehen in den jüdischen Gemeinden und Landjudenschaften in Aschkenas vermehrt zahlreiche Gemeindestatuten. Diese "Takkanot" umfassen Themenspektren von Gemeindeorganisation über moralische Vorgaben bis hin zur Regelung des alltäglichen Wirtschaftslebens. Solche jüdischen Statuten erfahren gegenwärtig besondere Beachtung im Kontext des am Simon Dubnow-Institut (Leipzig) angesiedelten Projekts "Recovering the Records of Early Modern European Jewry", welches in großem Rahmen die Digitalisierung jüdischer Gemeindebücher anstrebt. Eine erste Edition ausgewählter Takkanot hat jetzt Stefan Litt vorgelegt. Diese markiert als erster Band in der Reihe Archiv jüdischer Geschichte und Kultur einen Ausgangspunkt dafür, weitere frühneuzeitliche Texte aus den Pinkassim in großem Umfang der Forschung zugänglich zu machen.
Die Edition umfasst 15 erstmals veröffentlichte Gemeindestatuten in Originalsprache (Worms 1650 und 1684, Frankfurt am Main 1674/75, Halberstadt 1741, Fürth 1779, Ülfeld 1683-1698, Niederwerrn 1747, Neuzedlisch 1755/1789-1849, Den Haag 1701, 1716, 1723, Meijerij's Hartogenbosch 1764, Metz 1769, Dubno 1717, Deutschkreutz 1816) sowie fünf Übersetzungen ausgewählter Statuten ins Deutsche (Worms 1650, Frankfurt, Ühlfeld, Den Haag 1701, Neuzedlisch). Den Statutentexten werden jeweils Informationen zu Datierung, Form, Umfang und Erhaltungszustand der Texte sowie zu Aufbau und Untergliederung vorangestellt. Auf eine Beschreibung der jeweiligen Gemeindegeschichten wird dagegen verzichtet.
Maßstab der Edition ist eine streng originalgetreue Wiedergabe der Texte. Abkürzungen und Ligaturen werden im Anhang aufgelöst, ergänzt durch einen umfassenden Überblick über die bisherige Editionsgeschichte von Takkanot. Offen bleibt dabei, welcher Umfang an bekannten jüdischen Gemeindestatuten der Forschung noch nicht zugänglich gemacht wurde.
Die im anzuzeigenden Band edierten Takkanot bieten einen breiten Einblick in diese von der Forschung lange wenig beachtete Gattung der Gemeindestatuten und repräsentieren die gängigen Anlässe für deren Niederschrift als eng verknüpft mit der Situation der jeweiligen Gemeinde - sei es die Notwendigkeit einer umfangreichen Administration aufgrund ihres starken Anwachsens, die Reaktionen auf eine Veränderung der Schutzverhältnisse (429ff.), konkrete Alltagskonflikte (17, 49) oder jüdische Initiativen zur Kooperation, wie die Statuten der Landjudenschaft von Meijerij's Hartogenbosch belegen (345ff.). Takkanot stellen dabei den Versuch dar, die "jeweiligen rechtlichen Rahmenbedingungen, die von der nichtjüdischen Umwelt vorgegeben wurden" einzuhalten und daneben die "halachischen Vorgaben" zu wahren (8). In der neueren Forschung fand die sich daraus ergebende Möglichkeit einer detaillierten Untersuchung und Diskussion innerjüdischer Strukturen besondere Beachtung bei Stefan Rohrbacher, der sich explizit mit der Entwicklung der Hamburger Gemeinden befasst [1] und in Rebekka Voß' Artikel zur Shtadlanut. [2]
Eine sich zunehmend differenzierende Entwicklung von Gemeindestruktur dokumentiert das Beispiel der drei Statutentexte aus Den Haag (1701, 1716, 1723). Den Höhepunkt einer solchen Entwicklung stellen in dieser Edition schließlich die Takkanot aus Fürth (1779) dar, welche über 500 Paragrafen umfassen. Neben der Berücksichtigung einer inneren Gemeindeentwicklung plädiert Stefan Litt anhand der Beispiele Frankfurt und Worms für das Phänomen einer Parallelität der Takkanot, wenngleich die Frankfurter entgegen den Wormsern, "klar Tendenzen einer Säkularisierung der Gemeindeführung auf[zeigten]" (34, 52). Ebenso versteht Litt den Einfluss der christlichen Umwelt als prägenden Faktor der Statuten, wie er am Beispiel der "Luxusgesetze" aus den Metzer Takkanot (354), welche explizit auf die Verhaltensweisen der christlichen Nachbarn reagieren, deutlich macht. Einen Vergleich jüdischer und nichtjüdischer Statuten (so zum Beispiel zu Statuten der Zünfte) hält Stefan Litt zwar für absolut notwendig, führt diesen aber im Rahmen der Edition nicht durch.
Die vorliegende Edition macht in großem Umfang Quellmaterial erstmals der Forschung zugänglich und eröffnet ein weites Feld an Fragestellungen für Judaisten und Historiker. Die originalsprachlichen Texte bieten außerdem eine Grundlage für ausgedehnte Forschung an der Sprache der aschkenasischen Juden, welche über den linguistischen Aspekt hinaus auch Rückschlüsse ermöglicht auf die Beziehungen der jeweiligen Gemeinde zur Umgebungskultur. [3] Auch Litts Plädoyer, die einzelnen Regelungen der Takkanot als eine noch wenig berücksichtigte Quelle für die Rekonstruktion der Gemeindegeschichte hinzuzuziehen [4], ist dabei zu unterstreichen.
Die inhaltliche Arbeit mit den Statutentexten erfordert weitreichende Kenntnisse des frühneuzeitlichen Hebräischen und Jiddischen. Unter gezielter und umfangreicher Anleitung könnten die Takkanot auch in den universitären Unterricht für fortgeschrittene Studierende eingebunden werden. Daneben ermöglichen ihre Übersetzungen einem wissenschaftlichen Fachpublikum ohne entsprechende Sprachkenntnisse einen Umgang mit dieser Textgattung.
Es ist Stefan Litt gelungen, anhand der chronologischen Ordnung und Kategorisierung der Statuten von Stadt- oder Landgemeinden und Landjudenschaften aus verschiedenen politischen Landschaften anhand der ausgewählten Beispiele ein repräsentatives Bild der Vielfältigkeit von Takkanot in Aschkenas wiederzugeben. Die kommentarlose Synopse der Statuten wirft bewusst die Frage auf nach Vorbildern, parallelen Strukturen sowie der Entwicklung der Gemeindestatuten allgemein. Litts Edition drängt darauf, dass eine vergleichende Analyse von jüdischen und nichtjüdischen Statuten hinsichtlich der Erforschung frühneuzeitlicher Gemeindestrukturen unerlässlich ist und in der historischen Darstellung aschkenasischer Gemeinden Beachtung finden sollte.
Anmerkungen:
[1] Siehe Stefan Rohrbacher: Die Drei Gemeinden Altona, Hamburg, Wandsbek zur Zeit der Glikl*, in: Aschkenas 8 (1998), Nr. 1, 105-124.
[2] Siehe Rebekka Voß: "Habe Mission erfüllt und begehre meinen Lohn darum". Amt, Funktion und Titel des Schtadlan und ihre Wahrnehmung in der Frühneuzeit, in: Selbstzeugnisse und Ego-Dokumente frühneuzeitlicher Juden in Aschkenas. Beispiele, Methoden und Konzepte, hgg. v. Birgit E. Klein / Rotraud Ries, Berlin 2011, 139-166.
[3] Diese Argumentation vertritt aktuell besonders Israel Bartal, vergleiche Vortrag zum Thema "The Ashkenazi Pinkas: Language and History", Leipzig am 14.07.2015 (International Workshop "Early Modern Ashkenasi Record Keeping. Pinkassim as Historical Source", Simon Dubnow Institut, Leipzig).
[4] Vergleiche auch Stefan Litt: Pinkas, Kahal, and the Mediene. The Records of Dutch Ashkenazi Communities in the Eighteenth Century as Historical Sources, Leiden / Boston 2008.
Rahel Blum