Philip N. Howard / Muzammil M. Hussain: Democracy's Fourth Wave? Digital Media and Arab Spring (= Oxford Studies in Digital Politics), Oxford: Oxford University Press 2013, XIV + 145 S., 8 Tabellen, 2 Abb., 5 Grafiken, ISBN 978-0-19-993695-3, GBP 64,00
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Anfang 2011 erfasste eine grenzüberschreitende Protestwelle - der sogenannte "Arabische Frühling" - die Maghreb-Staaten und den Nahen Osten. Die Forderungen nach institutionellen Reformen, sozialer und wirtschaftlicher Gerechtigkeit und dem Ende autoritärer Herrschaft wurden immer lauter. Die Eskalation der Aufstände, ausgelöst durch Reformversprechungen einerseits und Repression andererseits, führte nicht zuletzt in Tunesien, Ägypten und Libyen zum Sturz der herrschenden Elite. Fakt ist, dass neue Informations- und Kommunikationstechnologien die Umbrüche beeinflusst und den Diskurs über die Bedeutung des Web 2.0 für politische Transformationsprozesse intensiviert haben.
Democracy's Fourth Wave? Digital Media and the Arab Spring thematisiert die Bedeutung digitaler Medien im Arabischen Frühling. Die Autoren Philip N. Howard und Muzammil M. Hussain untersuchen in einer vergleichenden Studie Kombinationen kausaler Faktoren und die Zusammenhänge zwischen technologischer Entwicklung, Protestdynamik und den politischen Konsequenzen in der Region. Ihr Augenmerk richten sie auf 23 arabische Länder, die sowohl Ähnlichkeiten im Hinblick auf ihre Mediensysteme, Herrschaftsformen, Zensurpolitik und der Verbreitungsdichte von Technologien vorweisen als auch sprachverwandt sind. Ihre Analyse stützt sich sowohl auf quantitative als auch qualitative Methoden der Sozialforschung.
In fünf Kapiteln erläutern die Verfasser zunächst, wie tunesische Blogger und Online-Aktivisten mittels Internet-Kampagnen auf die Selbstverbrennung des Händlers Mohamed Bouazizi aufmerksam machten. Ziel war es, durch die Verbreitung von Informationen, Bildern und Videos der fehlenden Berichterstattung nationaler Medien entgegenzuwirken, eine breite Solidarisierung innerhalb der Gesellschaft zu erreichen und Proteste online zu organisieren. Dass Forderungen, Symbole und Strategien des Protestes in den Nachbarländern nachgeahmt wurden, wird insbesondere am Beispiel Ägyptens aufgezeigt. Facebook-Seiten wie We are all Khaled Said, die an den von Sicherheitskräften zu Tode geprügelten ägyptischen Blogger erinnern, wurden ebenso als entscheidende Kommunikations- und Mobilisierungsinstrumente eingesetzt wie Twitter, SMS und YouTube-Videos. Ausgehend von ihren Beobachtungen entwickeln die Autoren ein 5-Phasen-Modell ("preparation phase", "ignition phase", "street protests", "international buy-in", "climax phase"), das den Entwicklungsprozess der Proteste und die Funktion digitaler Medien im Arabischen Frühling systematisiert. Damit leisten sie vor allem für sozial- und politikwissenschaftliche Untersuchungen mit dem Forschungsschwerpunkt Mediennutzung sozialer Bewegungen einen wertvollen Beitrag.
Ein historischer Rückblick auf den Einsatz digitaler Medien zum Zwecke der politischen Kommunikation seitens zivilgesellschaftlicher Akteure steht im Zentrum des zweiten Kapitels. Bis 2005 wurden Online-Angebote, besonders Webseiten und regierungskritische Blogs, als alternative Informationsquelle und Forum für den öffentlichen Diskurs, politische Partizipation und Willensbildung genutzt. Die Autoren identifizieren drei politische Themenfelder, die durch Videos, Audios und Texten dokumentiert wurden und den Austausch in den Protestländern bestimmt haben: das Macht- und Wohlstands(miss-)verhältnis zwischen der herrschenden Elite und der restlichen Bevölkerung, Korruption, Menschenrechtsverletzungen und Machtmissbrauch auf staatlicher Ebene sowie die offene Kritik an den Machthabern. Mit dem Aufkommen sozialer Medien wurde diese Auseinandersetzung in soziale Netzwerke verlagert und die interaktive Infrastruktur des Web 2.0 genutzt - die Revolution 2011 wurde vom virtuellen in den realen Raum transportiert.
Die effiziente Instrumentalisierung digitaler Medien erklären die Verfasser mit der Existenz junger, gut vernetzter Gesellschaften, die sich längst in der Welt der Tweets, Likes und Hashtags bewegen. Diese These wird im dritten Kapitel beispielhaft auf Aussagen zur demografischen Struktur Tunesiens und Ägyptens gestützt, wo rund 70 Prozent der internetaffinen Bevölkerung unter 34 Jahre ist. Darüber hinaus wird der weiblichen Bevölkerung eine tragende Rolle zugeschrieben. Bezugnehmend auf eine Auswertung von Twitter-Daten stellen die Autoren fest, dass mehr als 30 Prozent derer, die sich in beiden Ländern sowohl an Online-Diskussionen als auch an den Straßenprotesten beteiligt haben, weiblich waren. Leider bleibt eine Einordnung dieser Ergebnisse in einen erweiterten Kontext aus - Informationen zum Bildungsniveau, Beschäftigungsquote sowie der gesellschaftlichen Stellung wären an dieser Stelle aufschlussreich gewesen.
Als durchaus informativ erweist sich eine weitere Analyse von Twitter-Daten. Auf der Grundlage eines empirisch-analytischen Ansatzes legen Howard und Hussain dar, dass es einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Quantität von Tweets, die inhaltlich "politischen Wandel" zum Gegenstand hatten, und der Entwicklung der Proteste gab, die in Tunesien und Ägypten zum Sturz der Machthaber führten. Eine Betrachtung tunesischer Blogs beweist ein Zusammenspiel von politischem Online-Diskurs und den Ereignissen offline. Während in den Monaten vor dem Sturz Ben Alis die Schlüsselworte "Economie" und "Ben Ali" die Blogosphäre dominierten, bestimmten mit dem Tod Bouazizis die Forderung nach "Revolution" und "Freiheit" die Debatte. Zudem stellen die Autoren fest, dass der Diskurs über Freiheit und Würde sowie die Berichterstattung über die Entwicklungen in Tunesien den Twitter-Austausch in den Nachbarländern beeinflusste und als Anliegen der Staaten adaptiert wurde.
Die Reaktionen der Regime auf die Aufstände dokumentieren die Autoren eindrucksvoll im vierten Teil. Staaten wie Syrien, Bahrain oder Saudi Arabien - Länder in denen die Proteste niedergeschlagen wurden - haben früh Strategien der digitalen Aufstandsbekämpfung entwickelt. Die Regierungen Tunesiens und Ägyptens hingegen versäumten trotz langjähriger Überwachung, rechtzeitig Kontrollmechanismen für digitale Netzwerke zu entwickeln, um die Berichterstattung im In- und Ausland zu unterbinden. Gewiss erschwert die weit verbreitete Internetnutzung der Länder, die dezentralen Strukturen sowie die Anonymität in den sozialen Medien eine gänzliche Sperre. Es bleibt stellenweise Raum, den Repressionen zu entgehen. Dennoch ist es Staaten wie Saudi-Arabien und Bahrain gelungen, im Zuge eines organisierten "virtual lynch mob" (86) soziale Netzwerke zur Identifikation und Lokalisierung von Dissidenten zu nutzen. Mit Hilfe einer Ereigniszeitanalyse (1995-2011) belegen die Autoren, dass Staaten ganz gleich ob autoritäre, fragile oder demokratische, immer wieder bemüht sind, digitale Kommunikation zu verhindern. Dabei reichen die Maßnahmen vom Filtern und Sperren von Webseiten und Diensten über die Störung des Datenflusses bis hin zu Verhaftungen und Morden an Journalisten, Bloggern und Aktivisten.
Besonders gelungen ist das fünfte Kapitel, das dem arabischen Nachrichtenkanal Al Jazeera gewidmet ist. Mit seiner innovativen journalistischen Leistung hat der Sender maßgeblich dazu beigetragen, die Protestdynamik in der Region am Leben zu erhalten. Al Jazeeras arabische TV- und Online-Angebote dienten den Menschen vor Ort als Hauptinformationsquelle - auch für viele westliche Staaten war der englische Kanal das Fenster zu den Aufständen. Anders als zahlreiche internationale Rundfunkanstalten hatte Al Jazeera lange vor den Protesten 2011 ein Netzwerk an Bürgerjournalisten aufgebaut, die durch ihre Tweets, Fotos, Videos und Facebook-Mitteilungen ein wichtiges Nachrichtenangebot zur Verfügung stellten. In Anbetracht mangelnder nationaler Berichterstattung hat Al Jazeera mit zivilgesellschaftlichen Akteuren vor Ort kooperiert und die digitalen Quellen gezielt genutzt, um weltweit auf die Demonstrationen aufmerksam zu machen. Die Einzigartigkeit Al Jazeeras bestand in der Zusammensetzung seines Nachrichtenangebots. So wurden bspw. Hintergrundberichte und Analysen von Journalisten vorbereitet und geschickt mit Live-Meldungen, aktuellen Fotos und Videos der Bürgerjournalisten verknüpft. Unter Berücksichtigung von Creative-Commons-Lizenzen wurden Plattformen eingerichtet, die den Menschen das Hochladen von Augenzeugenberichten, Video-, Audio-, Fotomaterial ermöglichten und die Weiterverwendung durch den Sender erlaubten.
Eine genauere Betrachtung sozio-politischer und wirtschaftlicher Ursachen wie Arbeitslosigkeit, Wohlstandsverteilung, Einkommen, Verbreitungsdichte von Mobiltelefonen - Variablen, die für ein Gesamtverständnis und eine Kontextualisierung der Fallbeispiele hilfreich gewesen wären - erfolgt überraschenderweise erst im Fazit. In ihrer Analyse identifizieren die Verfasser Kombinationen verschiedener Faktoren, die sowohl die Wahrscheinlichkeit von Volksaufständen als auch ihren Erfolg erklären. Howard und Hussain unternehmen einen wichtigen Schritt, um das komplizierte Variablengebilde zu entzerren, welches die Transformationsprozesse beeinflusst hat. Mit ihren Ergebnissen leisten sie einen wichtigen Beitrag zur bis dato überschaubaren Forschungsliteratur, die sich empirisch mit dem Arabischen Frühling befasst. Ihnen gelingt eine gute Einordnung der Rolle (digitaler) Medien innerhalb sozialer Bewegungen in autoritären Staaten. Auch wenn sich das Werk im Schwerpunkt mit den Entwicklungen in Tunesien und Ägypten befasst, erfüllt es überwiegend seinen Anspruch, ein länderübergreifendes Verständnis für das Zusammenwirken technologischer, sozialer und politischer Faktoren im Arabischen Frühling herzustellen. Howard und Hussain resümieren, dass "In every single case, the inciting incidents of the Arab Spring were digitally mediated in some way." (123) Democracy's Fourth Wave? Digital Media and the Arab Spring eignet sich nicht nur hervorragend als Einstiegslektüre, sondern bietet wichtige Erkenntnisse für weitere Forschungsprojekte.
Sepideh Parsa