Rezension über:

Elmar Kossel: Hermann Henselmann und die Moderne. Eine Studie zur Modernerezeption in der Architektur der DDR (= Forschungen zur Nachkriegsmoderne), Königstein im Taunus: Karl Robert Langewiesche Nachfolger 2013, II + 198 S., 2 Farb-, 200 s/w-Abb., ISBN 978-3-7845-7405-9, EUR 39,80
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Rezension von:
Oliver Sukrow
Institut für Europäische Kunstgeschichte, Ruprecht-Karls-Universität, Heidelberg
Redaktionelle Betreuung:
Olaf Peters
Empfohlene Zitierweise:
Oliver Sukrow: Rezension von: Elmar Kossel: Hermann Henselmann und die Moderne. Eine Studie zur Modernerezeption in der Architektur der DDR, Königstein im Taunus: Karl Robert Langewiesche Nachfolger 2013, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 10 [15.10.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/10/24981.html


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Elmar Kossel: Hermann Henselmann und die Moderne

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Die für den Druck gekürzte und aktualisierte Version der 2008 an der FU Berlin eingereichten Dissertation des Architekturhistorikers Elmar Kossels zur Modernerezeption bei Hermann Henselmann hat den Anspruch, den "Legendenbildungen, Fehleinschätzungen, Lücken in Biographie und Werk bzw. wertenden Gewichtungen zugunsten bestimmter Werkphasen" (6) der bisherigen Forschung kritisch gegenüberzutreten, um "Leben und Wirken vor dem Leitmotiv der Modernerezeption in den historischen und architektonischen Kontext einzugliedern" (13). Anhand von Henselmann ließe sich exemplarisch die "Anpassung der Architektursprache an wechselnde politische Rahmenbedingungen verfolgen" (13) und zeigen, dass die 'Moderne' in der Nachkriegsarchitektur eine "offene Projektionsfläche" war, "die abhängig vom politischen Kontext viele verschiedene Inhalte repräsentieren konnte" (14).

Methodisch ist Kossels Herangehensweise von poststrukturalistischen Ansätzen geprägt, was sich darin zeigt, dass er gegenüber den Egodokumenten Henselmanns besonders kritisch ist, da er hier (zurecht) die Gefahr einer retrospektiven Mythenbildung erkennt (6ff.). Zum anderen basiert seine Argumentation vor allem auf der Analyse der Sekundärliteratur, auch aus der DDR. Er grenzt sich deutlich von Bruno Flierls "Bildzeichentheorie" der 1970er-Jahre ab, die er gar als "Konstrukt der DDR-Architekturpropaganda" und unbrauchbar für die Interpretation der Bauten Henselmanns bezeichnet (10). Anstelle von Flierls architekturikonologischem Ansatz [1] und Andreas Butters "Moderne als Haltung" [2] geht es Kossel um die Inbezugsetzung von Henselmanns Werk "mit der Architektur des westlichen Auslandes" (12), um anhand der Analyse von Bauten der 1920er- bis 1960er-Jahre zu demonstrieren, wie es Henselmann gelang, "zeitgenössische moderne Architektur zur Repräsentation des Sozialismus verfügbar zu machen" (183). Da Kossel davon ausgeht, dass Henselmann die Architektur der internationalen Moderne als Chiffre gebraucht hat, werde ich mich im Folgenden besonders auf die Kapitel konzentrieren, in denen er diese These vertritt. [3]

Sehr anschaulich und detailliert, versehen mit interessanten Detailbeobachtungen, erläutert Kossel im Kapitel "Die Große Wende im Bauwesen - Öffnung, Umstellung und Abgrenzung" (117-147) Henselmanns Weg von der Baukunst der "nationalen Traditionen" der 1950er-Jahre hin zu einer 'sozialistischen Interpretation' der internationalen West-Moderne in den 1960er-Jahren. Hier zeigt er am Turm der Signale (1959) stilistische Gemeinsamkeiten mit Projekten wie dem Terminal des Los Angeles-Airports (Paul R. Williams, 1959) oder Jean Faugerons Hauptstadtentwurf für West-Berlin (1957-58) auf. Stärker als bisher habe man statt der "sozialistischen Weltraumallegorie" des späteren Fernsehturms die inhärente "antifaschistische Transformationssymbolik" zu beachten (141ff.). Keine Erwähnung finden hier jedoch die tatsächlichen Innovationsschübe auf Architektur und Design im Sozialismus [4], die durch die zahlreichen Erfolge in der Raumfahrt befeuert wurden und erheblichen Einfluss auf die (positive) Selbstwahrnehmung der 1960er-Jahre in den östlichen Gesellschaften hatten. [5]

Am Endpunkt der Entwicklung Henselmanns von der Avantgarde zu den "nationalen Bautraditionen" und wieder zurück stünde das Haus des Lehrers am Berliner Alexanderplatz (1961-64). Das modernistische Ensemble - "Prototyp für eine neue, moderne Architektur in der DDR" (152-153) - sei jedoch erst durch Walter Womackas Mosaikfries Das Leben in der DDR als eine genuin sozialistisch erkennbar gewesen, weswegen Kossel an diesem Beispiel seine These nach der offenen "Projektionsfläche Moderne" bestätigt sieht, die nur durch die 'Labelung' mit Wandbildern als 'sozialistische Architektur' begriffen werden konnte (147). Leider geht Kossel trotz dieser wichtigen Erkenntnis von der Bedeutung der Wandbilder als Schmuck und als Bedeutungsträger nicht näher darauf ein, obwohl er mehrfach explizit darauf Bezug nimmt (14, 147, 183). Das Ausblenden der bildenden Kunst verwundert, weil ja Womackas Wandbild die Signifikanz von Henselmanns Architektur an dem symbolisch aufgeladenen Ort von "sozialistischer Identität, an dem [...] ein zukunftsweisendes Prestigeobjekt des jungen Staates entstehen sollte" [6], maßgeblich steigerte.

Stattdessen konzentriert sich Kossel unter der These einer "inszenierten" bzw. "stilisierten Moderne" (149, 160) ganz auf Henselmanns Architektursprache beim Haus des Lehrers. Er kann darlegen, an welchen Vorbildern er sich bediente: In erster Linie sei es die "plastische Architektursprache des Brasilianers Oscar Niemeyer" gewesen, die "zum wichtigsten Bezugspunkt" für Henselmann wurde (156). Von Niemeyers brasilianischen Bauten übernahm er "die Plastizität und den monumentalen Gestus der Architektur", die Fassadengliederung, das freigestellte Untergeschoss und die baugebundene Keramik (159-160): Brasilia in Berlin. Diese Übernahme, Adaption und kreative Aneignung des niemeyerschen Formen- und Stilrepertoires klassifiziert Kossel als 'Inszenierung' der internationalen Moderne, die sowohl auf der südamerikanischen als auch auf der mitteleuropäischen Bühne ähnlich gelagert sei (149). Für unterschiedliche politische Kontexte sei die moderne Architektur besonders gut geeignet, da sie, so Kossel, durch ihre ideologiefernen und 'neutralen' Elemente für mit jeweils unterschiedlichen Bedeutungsinhalten aufgeladen werden könne. Dieses Prinzip habe Henselmann bereits in den späten 1920er-Jahren erkannt und es unter dem Schlagwort des "Produktiven Widerspruchs" ständig neu variiert und den wechselnden Zeitumständen angepasst.

Als Klammer für seine Vorstellung einer inszenierten Moderne bei Henselmann wählt Kossel den Begriff der 'Chiffre'. Geht man dabei von der Grundbedeutung als Geheimzeichen oder (bildhaft) verschlüsselte Botschaft aus, so fragt sich der Rezensent, was eigentlich konkret mit dem "chriffrenhaften Charakter" einzelner Bauteile der modernen Architektur (wie Fensterband, Vorhangfasse, Betonstütze, usw.) gemeint ist? Kossel schreibt zudem, dass Henselmann sich der 'freien' Formen bediente, um nur den "Anschein von Modernität zu erwecken und gleichzeitig die Prinzipien der internationalen Moderne ad absurdum zu führen" (161). Ihm sei es also primär um Zitate und nicht um die damit verbundene Geistes- und Gestaltungshaltung gegangen. Also Alles nur ein Spiel ohne konkrete (politische) Aussage, ein bloßer Ästhetizismus, zudem noch verrätselt für den Betrachter? Letztlich fragt man sich doch, für wen Henselmann dann eigentlich inszeniert hat? Nur für sich selbst? Auch die absolute Fokussierung Kossels auf westliche Vorbilder verschiebt meines Erachtens zu stark die Perspektive, denn andere Inspirationsquellen, etwa die zeitgenössische sowjetische Architektur, bleiben völlig außen vor. In diesem Zusammenhang sei nur darauf hingewiesen, dass Kurt Magritz 1961 bei der Besprechung des "romantisierenden Symbolismus" der brasilianischen Nachkriegsmoderne (158) auch auf Moskauer Ensembles hingewiesen hat, die hinsichtlich der Gruppierung der Baukörper Parallelen zu Brasilia aufweisen würden. [7] Schade, dass Kossel diesen zeitgenössischen Hinweisen und Querverbindungen nach Osten nicht näher nachgegangen ist.

Abschließend bleibt das große Verdienst Kossels festzuhalten, dass er nicht nur den Bogen von der Zwischenkriegs- zur Nachkriegsarchitektur spannt und somit auf Kontinuitäten und Brüche aufmerksam macht, sondern dass er der Rezeptionsgeschichte der Architektur der DDR eine weitere spannende Note hinzufügt.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Bruno Flierl: Selbstbehauptung. Leben in drei Gesellschaften, Berlin 2015, 166ff.

[2] Vgl. Andreas Butter: Neues Leben, Neues Bauen. Die Moderne in der Architektur der SBZ/DDR 1945-1951, Berlin 2006, 27ff.

[3] Vgl. die Rezensionen von Anke Blümm / Thomas Flierl im gleichen FORUM.

[4] Vgl. Architektur für die russische Raumfahrt. Vom Konstruktivismus zur Kosmonautik: Pläne, Projekte und Bauten, hg. v. Philipp Meuser, Berlin 2013.

[5] Vgl. Julia Richers: "Himmelssturm, Raumfahrt und 'kosmische' Symbolik in der visuellen Kultur der Sowjetunion", in: Die Spur des Sputnik. Kulturhistorische Expeditionen ins kosmische Zeitalter, hgg. v. Igor J. Polianski / Matthias Schwartz, Frankfurt am Main / New York 2009, 181-210, 207.

[6] Luise Helas: "Walter Womacka. Sein Beitrag zur architekturbezogenen Kunst in der DDR", in: Kunstvolle Oberflächen des Sozialismus: Wandbilder und Betonformsteine (= Forschungen zum baukulturellen Erbe der DDR; Bd. 3), hg. v. Hans-Rudolf Meier, Weimar 2014, 19-102, 61.

[7] Kurt Magritz: "Form und Gestalt. Einige Bemerkungen zur Gestaltung des Hochhauses auf dem Marx-Engels-Platz in Berlin", in: Deutsche Architektur 10 (1961), 626-631, 627.

Oliver Sukrow