Mary Carruthers: The Experience of Beauty in the Middle Ages (= Oxford-Warburg Studies), Oxford: Oxford University Press 2013, XII + 233 S., 11 Abb., ISBN 978-0-19-959032-2, GBP 82,00
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Mary Carruthers hat bereits in mehreren Werken den Themenkomplex von Erinnerung, Gedächtnis und Imaginationsleistung in der mittelalterlichen Kultur behandelt. [1] Sie entwickelt nun diesen Ansatz im Rahmen von sechs Essays zur "Erfahrung von Schönheit" weiter, die aus akademischen Veranstaltungen hervorgehen und durch die in der Einleitung aufgeworfenen Problematiken lose zusammengehalten werden. Die Frage nach einer grundsätzlichen Beschreibung mittelalterlicher ästhetischer Erfahrung ist der Ausgangspunkt der Untersuchung, die den Begriff 'Ästhetik' aus der beobachteten Kultur als "knowledge acquired through sensory experiences" (17) liest. In den Essays steht demnach die erste Stufe menschlichen Verständnisses im Fokus, das "making sense" (13) aus sinnlichen Empfindungen, die vor Artefakten entstehen.
Carruthers kritisiert in etwas überspitzter Form den in der Forschung oft proklamierten Zusammenhang von mittelalterlicher Ästhetik und theologischen sowie moralischen Diskursen, der nun hinterfragt werden soll. Ihre Methodik, die sie als "old-fashioned" (13) bezeichnet, die jedoch bestechende Überlegungen zu stützen vermag, ist die lexikalisch-philologische Untersuchung von Texten. Vornehmlich anhand des Vokabulars für sinnesaffizierende Erfahrungen werden einzelne Werke unter anderem aus der Literatur, zur Architektur und zum Kunsthandwerk in den Blick genommen. [2] Diese Texte werden nachdrücklich unter Einbeziehung ihrer je eigenen, von rhetorischen Mitteln gestützten "agency" (15) untersucht, die das Potential schafft, menschliche Gefühle nicht nur zu repräsentieren, sondern selbst zu produzieren. Dabei kommt die lateinische rhetorische Tradition zum Tragen, die für Carruthers das Modell des mittelalterlichen Kunstverständnisses darstellt und somit als Alternative zum von ihr bereits als defizitär angesprochenen theologisch und didaktisch geprägten Modell aufgestellt wird. Im ersten Kapitel, "Artful Play", wird die Annahme, mittelalterliche Kunst sei immer mit moralisch-theologischen Werten verknüpft, kritisch betrachtet. Hierbei steht besonders die Reduzierung der den Künsten inhärenten "playfulness" (17) auf moralisch defizitäre Symptome eines "'childlike' mind" (17) im Fokus. Carruthers fragt nach der moralischen (Be-)Wertung des Spiels in der mittelalterlichen Kultur und erkundet im Weiteren sogenannte "ludic spaces" (17) und ihre lebensweltliche Positionierung. Dabei betont sie die produktive Verflechtung von Spiel und Kunst. Johan Huizingas Auffassung von spielerischen Räumen als separierte "freely experimental space[s]" (19) kritisierend, betont Carruthers die kreative Schaffenskraft, die gerade in den Spannungen und Ambivalenzen zwischen Kunst und Lebenswelt entsteht. Beobachtungen zu rhetorischen Übungen beleuchten die elementare Rolle des Spieles innerhalb des freieren Raumes der Kunst: Spielerische Lerntechniken wie sokratische Ironie oder rota combinatoria-Denkmodelle fördern intellektuelle Stimulation, innovatives und kreatives Denken. Über die positiven körperlichen Effekte dieser Verflechtung, beispielsweise Lachen als Stimulantium, kommen medizinische Theorien zum Tragen, welche die mittelalterliche Körper- und Selbstwahrnehmung als eine veränderbare und von äußeren Einflüssen bestimmte charakterisieren. Anhand einer Textanalyse (The Dream of the Rood) führt sie schließlich vor, wie die spielerisch-fluktuierende, unfeste Erzählqualität literarischer Texte als Raum für komplexe, sinnlich basierte und medizinisch relevante ästhetische Erfahrungen wahrnehmbar wird. Durch die Berücksichtigung der intendierten Überzeugungsleistung ("persuasion", 41) dieses rhetorisch geprägten Textes kann Carruthers schließlich das sinnstiftende Zusammenspiel von Autor, Werk und Rezipient vor Augen führen und somit den Erkenntniswert ihrer lexikalisch-rhetorischen Herangehensweise hervorheben.
Die Verbindung von Ästhetik und Rhetorik wird im zweiten Kapitel, "Sensory Complexion and Style", weiter ausgeführt. Nach der aristotelischen Sinnenlehre stellt sich die ästhetische Wahrnehmung in ihrer "[pleasurable] [...] complexity" (47) als komplex und multi-modal dar. Darauf baut eine differenzierte Betrachtung des menschlichen Wahrnehmungsprozesses auf, der bei den "directed desires" (51), den intentiones, beginnt. Diese fokussieren die Aufmerksamkeit durch positive Emotionen und sind der erste Schritt jeder (ästhetischen) Wahrnehmung. Anhand einiger Text- und Bildbetrachtungen kann Carruthers zeigen, dass diese wahrnehmungsleitenden intentiones auch in literarischen und materiellen Kunstwerken wirksam werden. Das Artefakt wird zu einem "agent" (53), das den Rezipienten durch die ihm inhärenten stilistischen Elemente auf eine Reise durch verschiedene Stationen führt. Dieser Weg ("ductus", 53) eines Rezipienten durch ein Werk wird in seiner oftmals bewussten Obskurität und Ambiguität nachgezeichnet und einleuchtend an Traktaten Bernhards von Clairvaux sowie Thomas von Aquins veranschaulicht. Dieser Ansatz ermöglicht es, die bewusste Produktion von Uneindeutigkeiten aufzuzeigen, ohne sie als primär moraldidaktisch zu interpretieren.
Nach der Untersuchung sinnlicher ästhetischer Erfahrung richtet sich das Augenmerk nun in "Taking the Bitter with the Sweet" auf die lexikologisch-historische Untersuchung der Begriffe dulcis und suavis. Der Ursprung von (per)suadeo (beraten, überzeugen) aus suavis weist auf die rhetorische Basis der sinnlichen Süße hin, die sich jedoch aus konträren Elementen wie bitter und salzig zusammensetzen kann. Die Begriffe werden in Relation zu Medizin und Theologie in ihrer Ambivalenz herausgearbeitet.
Das vierte Kapitel, "Taste and Good Taste", entwickelt die kulturhistorische Geltung von 'Geschmack' (gustus) als Begriff für ein ästhetisches Werturteil. Durch die Analyse der rhetorischen Begriffe honestus und decorum, welche seit der Antike ein Stilideal konnotieren, werden die sozialen, moralischen und ästhetischen Verflechtungen von Geschmack sichtbar. Honestus wird dabei als Begriff für "moral worthiness" (129) konturiert und mit decorum bezüglich eines angemessenen Stils zusammengebracht. Im Miteinbeziehen des medizinischen Diskurses wird auch die sinnliche Seite des rhetorisch-ästhetischen Begriffs von gustus rekonstruiert. Im folgenden Kapitel steht die varietas im Fokus: Auch hier zeigt Carruthers anhand von diversen lateinischsprachigen Texten aus Rhetorik, Theologie und Medizin die Komplexität eines Begriffes, wie sie sich aus verschiedenen Benutzungskontexten erschließen lässt. Der Begriff wird in seiner Entwicklung zu einer gewünschten stilistischen Norm beleuchtet, die aus verschiedenartigen Elementen "harmony through (or despite) their very discordance" (159) entstehen lässt. So betont unter anderem Petrus Cellensis die positiven Effekte divergierender und kontrastiver Emotionen während der Lektüre theologischer Texte, während ungleichartige Bilder in der monastischen Kunst zur bewussten Erzeugung von curiositas als medizinisch-intellektuelles Gegenmittel zum negativen taedium eingesetzt werden. Abschließend kann in einer bestechenden Analyse von sakraler Baukunst und Reiseberichten der Einfluss von varietas auf die perspektivische Raumwahrnehmung verdeutlicht werden, wobei Carruthers eine dynamische, auf starken Kontrasten basierende "polyfocal perspective" (151) feststellt.
Im letzten Kapitel, dem kein zusammenfassendes Schlusswort folgt, in dem jedoch vieles gebündelt wird, geht Carruthers auf die Idee von "Ordinary Beauty" ein. Aufbauend auf den vorigen Überlegungen und Textanalysen kann sie schlüssig zeigen, dass die Erfahrung von Schönheit auf sinnlichen Wahrnehmungen des Individuums beruht und ohne Würdigung insbesondere der Oberfläche des jeweiligen Artefaktes nicht entstehen kann. Im Rückgriff auf den Begriff der intentio eines Werkes werden Begriffe wie dulcis oder varietas hier zusammengeführt und in ihrer gefühlschaffenden Wirkung verdeutlicht. Die Analyse von pulcher und verwandten Begriffen wie venustus und formosus zeigt deren Zusammengehörigkeit in der Betonung der Schönheit von Oberflächen, vor allem bezüglich Farbigkeit und Licht. Unter anderem die mittelalterliche Faszination für "magnificence and minificence" (172), also das perspektivisch verzerrende "'making small' [...] [und] 'making large'" (173) in Bildern und literarischen Beschreibungen, oder die Gestaltung sakraler Innenräume mit illusionistischen Elementen wie verschiedenfarbigen Marmor-Imitationen stehen für die Maßgeblichkeit einer polyfokalen Perspektive bei der Generierung von ästhetischen Erfahrungen.
Das vorliegende Werk zeichnet sich durch ein bemerkenswertes Spektrum an untersuchten Texten aus. Die Einzelanalysen überzeugen und faszinieren, besonders hinsichtlich einer multi-modalen ästhetischen Wahrnehmung von Architektur, Buchkultur oder Musik. Das weitmaschige Netz, das Carruthers nach Texten und weiteren menschlichen Artefakten auswerfen kann, um ihre Thesen zu vertiefen, führt oftmals dazu, dass die besprochenen Texte als Ganze verschlossen bleiben (müssen) und nur in Ausschnitten sichtbar werden. Extensive Fußnoten und ein ebensolches Literaturverzeichnis regen zum Weiterlesen an. Carruthers bietet einen innovativen Überblick über verschiedenste Bereiche von Kunst und Kultur und zeigt, wie die Rekonstruktion der mittelalterlichen Schönheitserfahrungen anhand ihrer lateinischen rhetorischen Wurzeln nicht nur für kulturgeschichtliche, sondern auch für lexikologische und philologische Analysen erhellend sein kann.
Anmerkungen:
[1] Siehe Mary Carruthers: The Book of Memory. A Study of Memory in Medieval Culture, Cambridge 1990; sowie dies.: The Craft of Thought. Meditation, Rhetoric, and the Making of Images, 400-1200, Cambridge 1998.
[2] U.a. Augustinus Aurelius: De civitate Dei; Dante Alighieri: La Commedia secondo l'antica vulgate; Procopius: De aedificiis; Bonaventura: De reductione artium ad theologiam.
Romana Kaske