Stefanie Seeberg: Textile Bildwerke im Kirchenraum. Leinenstickereien im Kontext mittelalterlicher Raumausstattungen aus dem Prämonstratenserinnenkloster Altenberg/Lahn (= Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte; 114), Petersberg: Michael Imhof Verlag 2014, 335 S., 123 Farb-, 141 s/w-Abb., ISBN 978-3-7319-0038-2, EUR 69,00
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Kristin Dohmen / Ulrike Heckner (Red.): Graefenthal. Ein Kloster der Zisterzienserinnen am Niederrhein. Eine Veröffentlichung des Landschaftsverbandes Rheinland, hg. von U. Mainzer, Worms: Wernersche Verlagsgesellschaft 2008
Michael Greenhalgh: Marble Past, Monumental Present. Building with Antiquities in the Mediaeval Mediterranean, Leiden / Boston: Brill 2009
Die Objekte, die Stefanie Seeberg zum Thema ihrer Habilitationsschrift gewählt hat, wirken auf den ersten Blick nur wenig attraktiv: Es sind weiße Leinendecken aus dem ehemaligen Prämonstratenserinnenkloster Altenberg an der Lahn unweit von Gießen, die erst bei genauerem Hinsehen ihren reichen, durch unterschiedliche Stickmuster erzeugten Dekor zu erkennen geben. Ehemals waren die Darstellungsgegenstände durch gestickte Kontur- und Binnenlinien in Schwarz und Blau zusätzlich modelliert, doch sind diese grafischen Sehhilfen heute weitgehend verblasst, ebenso wie die roten Farbtupfer in Seide, die einst den Wangen der Figuren eine gesunde Röte verliehen. Dass der Begriff der Weißstickerei, der sich für diese Textilien in der Forschung eingebürgert hatte, somit unzutreffend ist, ist nur eine Erkenntnis von vielen, die Seeberg durch ihre minutiöse Analyse der Tücher und deren Kontextualisierung in die Bau- und Ausstattungsgeschichte von Altenberg erarbeiten konnte.
Seebergs Habilitationsschrift fügt sich ein in eine lange Liste von Publikationen, die in den letzten zwei Jahrzehnten zur Kunst und Architektur mittelalterlicher Frauenklöster erschienen sind. Die große Ausstellung "Krone und Schleier", die 2005 in Essen und Bonn den einstigen Ausstattungsreichtum mittelalterlicher Frauenkonvente eindrücklich vor Augen geführt hat [1], hatte durch ihren an der Raumstruktur eines Frauenklosters orientierten Ausstellungsaufbau explizit darauf verwiesen, dass monastische Ausstattungsobjekte nicht losgelöst von ihrem einstigen räumlichen Kontext, ihrem Aufstellungs- bzw. Aufhängungsort verstanden werden können. Diesem Paradigma folgt auch Seeberg. Altenberg eignet sich nicht zuletzt deshalb als hervorragendes Anschauungsbeispiel, weil dort bis heute die Klosterkirche aus der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts inklusive Teilen ihrer mittelalterlichen Ausmalung erhalten blieb; hinzu kommen mit dem berühmten, heute leider auf drei Standorte (Frankfurt, München, Braunfels) verteilten Schreinretabel und den sechs von Seeberg zentral untersuchten Textilien bedeutende Teile ihrer mobilen Ausstattung, deren einstige Verwendung zu den verschiedenen Anlässen des Kirchenjahrs unter anderem dank der erhaltenen Abschrift eines spätmittelalterlichen Küsterinnenbüchleins gut zu rekonstruieren ist.
Für Altenberg kommt hinzu, dass die enge Bindung des Klosters an die Hl. Elisabeth von Thüringen und ihre Tochter Gertrud geradezu idealtypisch die Flexibilität monastischer Institutionen für verschiedene Ausformungen der Stiftermemoria dokumentiert. Gertrud kam bereits als Kleinkind nach Altenberg und wurde dort 1248, als 21-Jährige, Magistra. Während ihrer fast 50 Jahre dauernden Amtszeit setzte sie - wohl maßgeblich unterstützt durch ihre ältere Schwester Sophia, die Gemahlin Herzog Heinrichs II. von Brabant und Mutter des Landgrafen Heinrichs I. von Hessen - einen Neubau der Klosterkirche in Gang, zu deren Erstausstattung auch die beiden ältesten der von Seeberg untersuchten Textilien gehören dürften: ein Behang mit Szenen aus der Vita der Hl. Elisabeth, heute in der Eremitage in St. Petersburg, und ein Tuch mit zwei gegenständigen Reihen von je 11 nimbierten Herrscherfiguren, heute im Museum Angewandte Kunst in Frankfurt. Für den Behang nimmt Seeberg überzeugend eine Zuordnung zum Hochaltar im Ostchor an, und zwar im Chorscheitel über einer kleinen, bis heute erhaltenen Wandnische, die Seeberg als Schrein für das Armreliquiar der Hl. Elisabeth deutet, sodass sich Behang und Reliquiar zu einem ersten Nukleus der Elisabethpropaganda verdichtet hätten. Auch das Tuch mit den 22 Gekrönten sieht Seeberg im Kontext der thüringisch-landgräflichen Familienmemoria; die gegenständige Anordnung der Figurenfriese spricht klar für eine Nutzung als Katafalkdecke, die wohl zu den Anniversarfeiern für die Familienangehörigen über einen leeren Schrein ausgebreitet wurde und darüber hinwegtäuschen sollte, dass weder die Hl. Elisabeth noch andere Mitglieder der thüringischen Landgrafenfamilie in Altenberg bestattet waren, ungeachtet dessen aber die vornehme Abkunft von Elisabeth und Gertrud dokumentierte. Wo dieses Scheingrab stand, muss offen bleiben; möglich wären die Vierung (wo seit ca. 1330 die Grabtumba Gertruds steht) oder die Nonnenempore, die allerdings erst um 1290 fertiggestellt war.
Im frühen 14. Jahrhundert, nach dem Tod der Magistra Gertrud anno 1297, kam es auf Initiative der Grafen von Nassau und mit Unterstützung von Mechthild von Ziegenhain, der Großnichte von Gertrud, zu einer neuen Ausstattungswelle, infolge derer der Hochaltar das bekannte Schreinretabel und einen Satz an Altardecken mit christologischen Bildthemen erhielt. Zwei der drei schriftlich dokumentierten Altardecken sind erhalten, eine im Metropolitan Museum of Art in New York, die zweite in der Wartburg-Stiftung in Eisenach; durch eingestickte Inschriften sind sie als Werke (oder lediglich Schenkungen?) dreier namentlich genannter (Kloster-)Frauen ausgewiesen, die leider historisch nicht weiter belegbar sind. Zwei weitere Altardecken aus Altenberg, heute im Cleveland Museum of Art und im Schlossmuseum Braunfels, markieren eine nochmals spätere Ausstattungsphase; sie dürften erst in den Jahren um 1380 (wiederum zusammen mit einem Retabel) entstanden sein und werden von Seeberg überzeugend mit der Auftraggeberschaft der Grafen von Solms zusammengebracht, die im Laufe des 14. Jahrhunderts die Führung in Altenberg übernommen hatte und noch heute die Besitzer des Klosters sind.
Neben dem Blick auf die Ausstattungsgeschichte des Klosters und die Vernetzung seiner Mitglieder mit der Gründerfamilie und weiteren Adelshäusern finden sich in Seebergs Buch zahlreiche interessante Überlegungen zur Zugänglichkeit einzelner Klosterräume durch mehrere Nutzergruppen, außerdem zu den medienspezifischen Qualitäten bzw. zum medialen Zusammenwirken der verschiedenen Objektgattungen. Textilhistorisch relevant sind Seebergs Beobachtungen zum Herstellungsprozess der Leinenstickereien - etwa zur Verwendung von Schablonen, zum materialimitierenden Einsatz von Sticharten oder zu falsch gedeuteten Vorzeichnungen. In Bezug auf die Vorzeichnungen (203-205) hätte die Autorin ruhig ein bisschen mutiger sein dürfen und den Entwurf nicht zwingend mit professionellen (männlichen) Malern außerhalb des Klosters zusammenbringen müssen, sind doch aus anderen mittelalterlichen Frauenklöstern - etwa aus den Dominikanerinnenklöstern St. Lambrecht in der Pfalz oder Oetenbach in Zürich - durchaus malende Nonnen bekannt, die ihre Kunstfertigkeit in Zeiten erworben hatten, als sie noch nicht im Kloster waren.
Insgesamt besticht Seebergs Buch durch Materialfülle, eine wunderbar präzise, flüssig zu lesende Sprache und hervorragende Abbildungen. Seebergs Buch ist eine wahre Fundgrube für alle, die sich für mittelalterliche Kirchenausstattungen interessieren - weit über das Genus der Leinenstickereien und über den Einflussbereich von Altenberg hinaus.
Anmerkung:
[1] Jutta Frings / Jan Gerchow (Hgg.): Krone und Schleier. Kunst aus mittelalterlichen Frauenklöstern, Ausst.-Kat. Essen, Ruhrlandmuseum: Die frühen Klöster und Stifte 500-1200 / Bonn, Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland: Die Zeiten der Orden 1200-1500, München 2005.
Carola Jäggi