Rezension über:

Sibylle Klemm: Eine Amerikanerin in Ostberlin. Edith Anderson und der andere deutsch-amerikanische Kulturaustausch (= Bd. 59), Bielefeld: transcript 2015, 456 S., 20 s/w-Abb., ISBN 978-3-8376-2677-3, EUR 39,99
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Rezension von:
Hedwig Richter
Universität Greifswald
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Hedwig Richter: Rezension von: Sibylle Klemm: Eine Amerikanerin in Ostberlin. Edith Anderson und der andere deutsch-amerikanische Kulturaustausch, Bielefeld: transcript 2015, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 10 [15.10.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/10/27170.html


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Sibylle Klemm: Eine Amerikanerin in Ostberlin

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"Some day I'll be recognized", schrieb die 26-jährige Edith Anderson 1941 in ihr Tagebuch, die Leute würden dann bekennen: "She was remarkable!" Mit diesem Zitat beendet Sibylle Klemm ihre Biographie, als gälte es, alle Zweifel an der Bedeutung dieser Frau und damit an der Relevanz des Buches vorsorglich tilgen zu müssen.

Gewiss, Edith Anderson war eine bemerkenswerte Person. 1915 wurde sie in New York in einer jüdischen Familie als Edith Handelsman geboren, sie entwickelte sich zur Kommunistin und arbeitete einige Zeit als Kulturredakteurin der kommunistischen Tageszeitung Daily Worker. Der außergewöhnlichste Umstand ihrer Biographie jedoch ist ihr Leben in der DDR. 1947 zog sie nach Ost-Berlin zu ihrem deutschen Mann, dem Exilanten Max Schröder, der zum Cheflektor des Aufbau-Verlages aufstieg.

Sibylle Klemm will in ihrer Biographie zeigen, dass Anderson nicht einfach ein buntes Leben als Liebhaberin in hetero- und homosexuellen Beziehungen führte und als überaus privilegierte DDR-Bürgerin mit großen Freiheiten bedacht war, die ihr Westreisen ebenso ermöglichten wie das für intellektuelle Sozialisten unabdingbare Naserümpfen über die Freuden des westlichen Konsums. Es geht der Autorin um den Nachweis, dass Anderson auf geistigem Gebiet Außerordentliches geleistet habe. Nach einem einleitenden biographischen Überblick führt Klemm Andersons Tätigkeitsfelder in einzelnen Kapiteln aus: Edith Anderson als Managerin des ostdeutsch-amerikanischen Austausches, als Übersetzerin, als Journalistin, als Feministin und Anderson als Schriftstellerin.

Dabei bietet die Autorin eine Fülle an Informationen. Akribisch schildert sie etwa die Freundschaft zwischen Edith Anderson und dem kanadischen Musiker Perry Friedman, der die folkloristische "Singebewegung" in der DDR mit initiierte - eine von der SED geförderte Alternative zur Schlagermusik. Wie auch in den anderen Kapiteln zitiert Klemm erschöpfend aus Andersons Briefen und Aufzeichnungen. Immer wieder kritisierte und kommentierte Anderson Friedmans Aktivitäten.

Doch bedeuten die zitierten Mahnungen und Erinnerungen Andersons, dass sie einen Einfluss auf die Singebewegung hatte? Überhaupt stellt sich beim Lesen immer wieder die Frage: Dass eine Person bemerkenswert war und ein spannendes Leben zwischen den Welten führte - rechtfertigt das eine Biographie mit diesem ungeheuren Forschungsaufwand, den Klemm betrieben hat (allein über 3000 Briefe wurden für die Biographie aus dem Anderson-Nachlass gründlich ausgewertet)?

Unter den Bergen an nebensächlichen Informationen gehen zentrale Aspekte unter. Wie bedeutungsvoll etwa war Anderson als Schriftstellerin? Konnte sie als Feministin auf die Frauenbewegungen in der DDR tatsächlich Einfluss nehmen? Diese Fragen lassen sich kaum, wie die Biographin es versucht, mit einer ermüdenden Wiedergabe von Andersons Büchern, mit unveröffentlichten Leserbriefen Andersons, mit Kommentaren befreundeter Schriftsteller oder mit ausführlich Paraphrasen von Rezensionen beantworten.

Klemm scheint den unbedingten Willen Edith Andersons, eines Tages als vielgelesene Intellektuelle anerkannt zu werden, als Vermächtnis übernommen zu haben. Das ist schade. Denn wenn es in dem Buch einmal nicht darum geht, die Relevanz von Anderson nachzuweisen, bietet es bemerkenswerte Einblicke. Etwa in das rigide Zensurwesen der DDR, das womöglich dazu beigetragen hat, Andersons Karriere als Schrifstellerin und Journalistin zu verhindern. Außerdem werden die vielfältigen Gewissenskonflikte deutlich, in die der real existierende Sozialismus überzeugte Kommunisten fast immer gestürzt hat.

Bei diesen Fragen der politischen Positionierung könnte Andersons journalistische Arbeit aufschlussreich sein. Die Artikel, die sie überwiegend für kommunistische US-Zeitungen mit geringer Auflagenhöhe geschrieben hat, spiegeln die Haltung dieser freiheitsliebenden Kommunistin gegenüber den Mängeln der SED-Diktatur auf eigenartige Weise wider: Anderson wich der Realität aus. Sie schrieb kaum über die DDR, dafür umso ausführlicher und klischeehafter über Westdeutschland, das sie doch gar nicht kannte. Wieder und wieder finden sich in ihren Texten alle Versatzstücke der DDR-Propaganda: die Dekadenz des Westens, sein oberflächlicher Glanz, die Kommerzialisierung der Kultur, die Hörigkeit gegenüber der aggressiven NATO, vor allem und immer wieder (und das freilich völlig zu Recht) die einstigen Nazis in hohen Positionen. Ganz offensichtlich diente die Schwarzmalerei der eigenen Vergewisserung, im richtigen Land zu leben, und als Vorwand dafür, sich nicht mit den Fehlern der sozialistischen Diktatur auseinandersetzen zu müssen.

Gerade als Beobachterin und linientreue Querdenkerin, die beispielsweise Wolf Biermanns Ausbürgerung rechtfertigte, wirken Andersons Gedanken auf merkwürdige Art erhellend. Doch auch hier geht Klemm in die Falle von Andersons Willen. Denn diese hielt den Beobachter grundsätzlich für blind und - ideologisch korrekt - nur den aktiv Handelnden für kompetent und aussagefähig. (Welch ein törichtes Diktum, das im Titel eines Buches von Anderson "Der Beobachter sieht nichts" von 1972 bestärkt wird.)

Die mangelnde wissenschaftliche Distanz der Biographin wird immer wieder zum Problem. So übernimmt Klemm vielfach die Sprachnormen der SED und schreibt statt von "Zensur" lieber von "Gutachten für den Verlag" (236). Oder sie berichtet von der "grellen Warenflut" des Westens (50). Mit einem gewissen Wohlwollen gibt Sibylle Klemm auch die moralischen Standpauken der DDR wieder. Honecker sei oft genug auf die Mauer und die Menschenrechte zu sprechen gekommen und habe erklärt, "dass, anders als in den USA, in der DDR das Recht auf Bildung, Arbeit, Wohnen und Reisen - grundlegende Menschenrechte also - verwirklicht seien und die Mauer so lange bestehen bleibe, bis die Gründe für ihre Errichtung beseitigt seien" (48).

Allenthalben lässt die Biographie analytische Schärfe vermissen. Vieles bleibt unklar, nicht zuletzt die Frage, welche Bedeutung Edith Anderson nun eigentlich zukommt. Sibylle Klemm plädiert am Ende ihres Buches dafür, ein Anderson-Lesebuch herauszugeben. Tatsächlich könnte das für die Forschung aufschlussreicher sein. Womöglich erweist sich Edith Anderson dann als eine ähnlich gut informierte Zeitgenossin wie etwa Brigitte Reimann in ihren Tagebüchern. Die Einordnung von Edith Andersons geistigen Höhenflügen und politischen Tiefpunkten bliebe dann ganz den Leserinnen und Lesern überlassen und würde nicht mit lästigen Kommentaren bedacht und in ausufernden Paraphrasen ertränkt werden.

Hedwig Richter