Marc Halder: Der Titokult. Charismatische Herrschaft im sozialistischen Jugoslawien (= Südosteuropäische Arbeiten; 149), München: Oldenbourg 2013, 367 S., ISBN 978-3-486-72289-5, EUR 49,80
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Wer wie der Rezensent im September 1971 miterlebt hat, wie Josip Broz Tito mit seiner Frau Jovanka im offenen Mercedes in Zagreb einfuhr und von Zehntausenden Kroaten umjubelt wurde, kam nicht umhin, dem Präsidenten des kommunistischen Jugoslawiens "charismatische Herrschaft" zuzubilligen. Als der jugoslawische Staats- und Parteichef zehn Wochen später mit massiven Drohungen die reformbereite KP-Spitze Kroatiens zum Rücktritt zwang und Hunderte leitende Angestellte - auch der spätere kroatische Präsident Franjo Tuđman - ihre Posten verloren, erlitt das positive Bild Titos in der breiten Bevölkerung kaum Schaden. Das Charisma des einst erfolgreichen Partisanenführers überdauerte diese schwere Krise ohne nennenswerten Kratzer. Das Staatsbegräbnis für Tito im Mai 1980 versammelte schließlich hohe Vertreter aus 121 Staaten. Mit diesem Begräbnis ging eine Epoche zu Ende.
Marc Halder hat ein sehr gutes Thema gewählt, dessen Aktualität bis heute währt. Es war naheliegend, dass Halder bei der Charisma-Theorie Max Webers ansetzte, die nicht von einer göttlichen Gnade oder einer persönlichen Eigenschaft, sondern von einer sozialen Beziehung ausgeht. Der "Charismaträger" benötigt also das Vertrauen der Gemeinschaft. Halder ist zuzustimmen, wenn er den Ausgang für den Personenkult um Tito in den Kriegsjahren sieht; statt "Partisanenkampf" (19) hätte er aber "Partisanenkrieg" schreiben können. Immerhin bestand Tito mit seinen einerseits stetig wachsenden, andererseits in den Auseinandersetzungen mit Wehrmacht und Waffen-SS immer wieder dezimierten Brigaden die schwersten Kämpfe und entging mehrmals nur knapp deutscher Gefangenschaft. Mit der Verleihung des Marschall-Ranges durch die zweite Konferenz des Antifaschistischen Rats der Nationalen Befreiung Jugoslawiens in Jajce Ende November 1943 dürfte der Grundstein für Titos Charisma gelegt worden sein.
Halder kennt die einschlägige Literatur, obwohl den bisher etwa 50 Biografen Titos noch keine entscheidende Annäherung an die Person gelungen ist. Dies hängt auch damit zusammen, dass Tito kaum persönliche Briefe und schon gar kein Tagebuch hinterließ. Dies darf nicht überraschen, war Tito doch zwischen seiner Gefangennahme 1915 in den Karpaten und dem Kriegsende 1945 gezwungen, konspirativ und mit mündlichen Anordnungen und Befehlen zu agieren. Weder in russischer Kriegsgefangenschaft noch während der Oktoberrevolution, weder als Funktionär der illegalen KPJ noch im Gefängnis von Lepoglava, weder in der Komintern in Moskau noch im Partisanenkrieg wäre es klug gewesen, schriftliche Zeugnisse zu hinterlassen. Wir sind daher vielfach auf die beiden "Vielschreiber" in seinem engsten Führungskreis angewiesen: auf den Montenegriner Milovan Đilas, den Tito allerdings im Januar 1954 verbannen ließ, und den Slowenen Edvard Kardelj, der bis zu seinem Tod 1979 Titos engster Vertrauter blieb. Auch Vladimir Dedijer gewann schon während des Krieges Einsichten in das politische und militärische Handeln Titos. Leider kann auch Halder keine neuen Erkenntnisse zum schwierigen Verhältnis zwischen Stalin und Tito beisteuern und erläutert zu wenig die Revanchegedanken Titos gegenüber den serbischen Četnici, kroatischen Ustaše und slowenischen Domobranci.
Halder entwickelt Titos charismatische Herrschaft und die Ausprägung des Titokults chronologisch. Er beginnt mit den ersten Feiern am 1. Mai 1945, der Wahlkampagne und der Proklamation der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien am 29. November 1945. Schon am 25. Mai 1945 wurde erstmals auch Titos Geburtstag gefeiert. Bereits 1946 entstand der erste Film mit Tito als Hauptfigur, die von einem russischen Schauspieler gestaltet wurde. Hunderte Schulen forderten Bilder Titos an, die Zahl der Tito-Straßen und -Plätze schoss in die Höhe. Titos Konflikt mit dem römisch-katholischen Erzbischof von Zagreb, Alojzije Stepinac, der schließlich im Gefängnis von Lepoglava landete, scheint dem Charisma des damaligen Ministerpräsidenten nicht wesentlich geschadet zu haben. Gefährlicher war der Bruch mit Stalin, der jedoch von Moskau ausging. Halder erkennt zu Recht, dass Stalin die eigenständige Außen- und Innenpolitik Titos ein Dorn im Auge war und dass weniger ideologische Abweichungen als vielmehr Prestigefragen eine Rolle spielten. Schließlich sollte nicht übersehen werden, dass Stalin mehr Dankbarkeit für die entscheidende Waffenhilfe der Roten Armee bei der Befreiung Belgrads im Oktober 1944 erwartete.
Sowohl mit seinem Werben für die Arbeiterselbstverwaltung als auch mit einem Paradigmenwechsel in der Kulturpolitik punktete Tito bei KP-Funktionären und Intellektuellen. Nachdem Tito 1953 zum Staatspräsidenten gewählt worden war, engagierte er sich immer stärker in der Außenpolitik. Zwischen 1944 und 1979 absolvierte er 170 Staatsbesuche in 70 Ländern. Tito wurde einer der Gründungsväter der Blockfreienbewegung, was Jugoslawien großen Einfluss bei der UNO in New York verschaffte. Bereits im September 1951 erschien Titos Bild auf dem Cover des "Spiegel", im März 1952 auf jenem des "Life". Immer häufiger wurde die Person Titos im In- und Ausland direkt mit Jugoslawien und seinen Völkern identifiziert. Eine privilegierte Schicht aus Partei- und Staatsfunktionären stützte Titos charismatische Herrschaft. Halder hätte auch noch Titos heroisches Ansehen als Oberkommandierender der Jugoslawischen Volksarmee akzentuieren dürfen.
Als der Aufschwung der jugoslawischen Wirtschaft bereits zu Beginn der 1960er-Jahre ins Stocken geriet, scheute sich Tito nicht, Auswüchse von Korruption und Vetternwirtschaft seitens kommunistischer Funktionäre zu kritisieren. Zwar gelang es, die steigende Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Entsendung von "Gastarbeitern" in die Bundesrepublik Deutschland und nach Österreich sowie einer Steigerung des Sommertourismus an der Adria abzufangen, aber bei Studentendemonstrationen im Juni 1968 in Novi Beograd waren erstmals Parolen wie "Nieder mit Tito" zu hören (113). Tito stellte sich überraschenderweise hinter die Protestbewegung und konnte so die Unzufriedenheit in eine Unterstützung für seine Führung umbiegen. Auch sein Besuch in Prag, knapp vor der Intervention des Warschauer Paktes, wurde als Unterstützung der dortigen Reformbewegung verstanden.
Tito ging aus den Krisenjahren gestärkt hervor, und der Titokult erlebte einen neuen Höhenflug. Der Partisanenkrieg wurde mythologisiert, Gedenkstätten und Denkmäler errichtet, Titos 80. Geburtstag im Jahr 1972 mit Pomp gefeiert. Ein Bild des Marschalls zierte das "Zeit-Magazin" vom 28. April 1972, zu dem Herbert Wehner das Vorwort schrieb. Titos Hang zum Luxus wurde allgemein akzeptiert. Eine Ausstellung in Belgrad setzte Tito mit der Partei und der Revolution gleich, aber seine zentrale Idee von "Brüderlichkeit und Einheit" begann zu zerbröckeln. Trotz Ölkrise und Auslandsverschuldung wurden die Feierlichkeiten zu Titos 85. Geburtstag ein Höhepunkt des Titokults.
Nach diesem chronologischen Durchgang widmet sich Halder wesentlichen Dimensionen des Titokults. Titos Verherrlichung in Medien, Schulbüchern, Lesefibeln, Liedern, Gedichten, Briefen, Eingaben und Patenschaften reichte immer wieder an Peinlichkeiten heran, wenn etwa für den Buchstaben "T" nicht "Tata" (Vater), sondern "Tito" gewählt wurde. National und international wirkungsvoll waren zweifellos die beiden zu Anfang der 1970er-Jahre gedrehten Spielfilme "Schlacht an der Neretva" und "Sutjeska". Eine zentrale Rolle in der Pflege des Titokults spielten jährlich die Feiern zum 1. Mai und zu Titos Geburtstag am 25. Mai.
Nach Titos Ableben wurde noch mehrere Jahre an seinem Personenkult festgehalten. Innerhalb von sechs Monaten besuchten etwa 2,5 Millionen "Jugoslawen" sein Grab in Belgrad. Andererseits setzte seit 1981 eine "Mythenerosion" (243) ein, teils wissenschaftlich, teils literarisch. Vor allem im Umkreis der Serbischen Akademie der Wissenschaften begann sich Kritik zu formieren. Als freilich für den "Tag der Jugend" 1986 die slowenische Jugendorganisation ein Poster präsentierte, das nur eine minimal veränderte Reproduktion einer NS-Propagandaarbeit aus dem Jahr 1936 zeigte, war der Skandal perfekt. Binnen weniger Jahre erodierte der gesamtjugoslawische Gedächtnisdiskurs und mit ihm der Titokult. Am zehnten Todestag wurde Tito medial von seinem Kultpodest gestoßen. In den jugoslawischen Nachfolgestaaten fiel auch Tito dem Entfernen von Denkmälern und Gedenktafeln zum Opfer. Und dennoch: Bei einer Umfrage einer kroatischen Zeitung im Jahr 2000 nach dem bedeutendsten kroatischen Politiker des 20. Jahrhunderts landete Tito nur knapp hinter dem legendären, 1928 ermordeten Bauernführer Stjepan Radić an zweiter Stelle.
In seiner Zusammenfassung stellt Halder die entscheidende Frage, "welche Kohäsionswirkungen die charismatische Herrschaft und der Kult um den Staatsgründer zu dessen Lebzeiten und darüber hinaus hatten" (297). Er betont die "staatserzeugende Kraft" des Gründungsmythos und der Gründungsfigur, die Identitätsstiftung durch den "Partisanen-Jugoslawismus" und die besondere Bedeutung des Herrschaftsmottos "Brüderlichkeit und Einheit". Aber Halder erkennt auch die Aufgabe des Konzepts der Staatsbürgernation mit der Verfassung von 1963 und den Wechsel zur Multinationalität und zur kulturellen Differenzierung. Somit wurde die charismatische Herrschaft Titos für den inneren Zusammenhalt noch bedeutsamer. Halders Buch gibt wesentliche Einblicke in das Werden, Bestehen und Vergehen von Titos Charisma und des Personenkults um ihn. Vielleicht hätten noch einige Schwächen seiner Herrschaft akzentuiert werden können: die Unfähigkeit zu einer umfassenden Geschichtsbetrachtung über den Zweiten Weltkrieg; die Schwäche des Wirtschaftssystems der Arbeiterselbstverwaltung; die Angst vor einem nüchternen Umgang mit alten und neuen Nationalismen. Halders Arbeit wird aber mit Sicherheit weitere Forschungen zu Titos Jugoslawien stimulieren.
Arnold Suppan