Rezension über:

Karl-Siegbert Rehberg / Paul Kaiser (Hgg.): Bilderstreit und Gesellschaftsumbruch. Die Debatten um die Kunst aus der DDR im Prozess der deutschen Wiedervereinigung, Berlin / Kassel: B&S Siebenhaar 2013, 570 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-936962-33-8, EUR 24,80
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Rezension von:
Jérôme Bazin
Centre de recherche en histoire européenne comparée, Faculté de Lettres et Sciences Humaines, Université Paris-Est Créteil
Redaktionelle Betreuung:
Oliver Sukrow
Empfohlene Zitierweise:
Jérôme Bazin: Rezension von: Karl-Siegbert Rehberg / Paul Kaiser (Hgg.): Bilderstreit und Gesellschaftsumbruch. Die Debatten um die Kunst aus der DDR im Prozess der deutschen Wiedervereinigung, Berlin / Kassel: B&S Siebenhaar 2013, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 11 [15.11.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/11/26588.html


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Karl-Siegbert Rehberg / Paul Kaiser (Hgg.): Bilderstreit und Gesellschaftsumbruch

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Nach mehreren Überblicksbüchern und Ausstellungskatalogen über Kunst in der DDR wollen die Herausgeber, die Dresdner Soziologen Karl-Siegbert Rehberg und Paul Kaiser, den sogenannten Bilderstreit (die Kontroversen um die Kunst aus der DDR nach der Wende) untersuchen. Die Gliederung des Buches mit drei Teilen ist originell. Der erste Teil ("Aufsätze", 23-282) sammelt wissenschaftliche Beiträge (die meisten über den Bilderstreit und die Ausstellungen, einige über die Ostalgie oder die Rezeption von Kunst aus der ehemaligen DDR). Der zweite Teil ("Statements", 283-355) beinhaltet mehr oder weniger lange Aufsätze von Künstlern, Akademikern, Kritikern, Museumsleuten und Galeristen, die von den Herausgebern über ihre Erfahrungen mit dem Thema befragt wurden und die unterschiedlich antworteten: durch persönliche Erinnerungen, allgemeine Betrachtung über Sozialismus, kurze Hinweise auf die Zwecklosigkeit des Bilderstreits, usw. Der dritte Teil ("Dokumentation", 356-550) publiziert bereits veröffentliche Artikel der 1990er- und 2000er-Jahre.

In jedem Teil des Buches wird mehrfach auf die Höhepunkte des Bilderstreites eingegangen: der polemische Ausbruch von Baselitz (1990), die Ausgestaltung des Deutschen Bundestages in Berlin (1997-1999), die verschiedenen Ausstellungen in Berlin, Dresden, Leipzig, Weimar, Nürnberg, Neuhardenberg, Beeskow, Gera, und auch einige Ausführungen über die Demontagen von öffentlichen Kunstwerken. Die Bezeichnungen, die während der 1950er-Jahre in der westlichen Kunstszene für die Kunst in der DDR ("Staatskünstler", "Unkunst", "Auftragskunst") formuliert wurden, stehen hier erneut zur Debatte.

Eines der Hauptargumente des Buches wirft ein neues Licht auf den Bilderstreit: Er sei als ein "Stellvertreter-Diskurs im Prozess der deutschen Wiedervereinigung" zu begreifen (50). Der Wiedervereinigungsprozess (und insbesondere sein Rhythmus) rief Unzufriedenheit und Frustrationen auf beiden Seiten des ehemals geteilten Deutschlands hervor. Die Kunstkontroversen seien davon ein Surrogat und ein Symptom. Rehberg spielt auf den "Elitenwechsel" (53) an; und der Bilderstreit ist tatsächlich von der Ersetzung von ostdeutschen durch westdeutschen Eliten in Museen, Medien und Universitäten untrennbar. Die Auseinandersetzungen enthüllen das demokratische Unbehagen der 1990er-Jahre, aber verschleiern es auch: es werden soziale, wirtschaftliche und politische Fragen durch künstlerische ersetzt. In diesem Zusammenhang ist der Beitrag von Christian Heinisch über Konflikte im wiedervereinigten Deutschland bemerkenswert (268-282). Dessen Beitrag ist nicht auf die Kunstszene konzentriert, sondern eröffnet eine breite Perspektive auf die gesellschaftlichen Problemlagen, und stellt eine wichtige Frage: Wie wurden gesellschaftliche Konflikte in einer selbstbewussten liberalen Demokratie wie der Bundesrepublik nach 1990 formuliert, debattiert und verhandelt?

Dennoch bleiben diese Fragen insgesamt leider im Hintergrund und bilden nicht den Kernpunkt des Buches. Die Herausgeber wollen hauptsächlich zu einem distanzierten Blick auf die Vergangenheit durch das Rekonstruieren der Etappen des Bilderstreites beitragen. Der wichtigste Begriff des Buches ist die "Versachlichung". Der Aufsatz von Gisela Schirmer um Willi Sittes Ausstellungsverschiebung und -absage in Nürnberg (2001) ist besonders interessant in dieser Hinsicht (166-179). Schirmer bestreitet in ihrem Text die wissenschaftliche Arbeit mit den Dokumenten zu Willi Sitte und kritisiert die Rolle der Herausgeber Rehberg und Kaiser, welche diese bei den Ausstellungsvorbereitungen in Nürnberg gespielt haben. Schirmer ist sodann die einzige Autorin des Sammelbandes, die in einen wissenschaftlichen Disput mit den Herausgebern tritt. Ihr Beitrag erinnert uns daran, wie unsicher die von Rehberg und Kaiser prominent hervorgehobene "Versachlichung" des Bilderstreites war und immer noch ist.

Das Buch ist mit seinem Projekt kohärent und konsequent. Es hat also wenig Sinn, mit dieser Rezension eine ganz andere methodologische Perspektive zu verlangen. Dennoch haben wir am Ende der insgesamt 574 Seiten mehr Fragen über den Bilderstreit als Antworten. Deshalb können wir die Relevanz der methodologischen Auswahl in Frage stellen: Ist ein Kompilieren von autorisierten Kunstexperten, deren Statements wir schon oft anderswo gelesen haben, das beste Mittel, den Bilderstreit zu untersuchen? [1]

Auf mehrere Fragen gibt das Buch keine Antwort.

Erstens isoliert das Buch den 'deutschen Fall' von den anderen ehemaligen sozialistischen Ländern. Zwar ist die DDR das einzige Land, das durch die Wiedervereinigung mit einem westlichen Land verschwand und mediatisierte Polemiken in den 1990er- und 2000er-Jahren gekannt und kritisch reflektiert hat. Aber jede ehemalige kommunistische Nation hatte Beziehung zum Westen vor der 'Wende' 1989-91 und Auseinandersetzung mit den Kunstwerken aus der sozialistischen Periode in der Zeit nach der 'Wende'. Die ost-deutsche Situation ist nicht so außergewöhnlich als das Buch behauptet - die rein deutsch-deutsche Perspektive sollte somit deutlich hinterfragt werden. Sie ist umso bedauerlicher, dass das Buch die Historiografie über den Postkommunismus in Ost-Mittel-Europa und ihre sehr reichen methodologischen Reflexionen ignoriert. [2]

Zweitens werden die Bilder ebenfalls ignoriert. Das Buch hat viele Abbildungen, diese finden aber keine analytische Betrachtung. Zwar ist der Bilderstreit eine diskursive Mediendebatte, aber haben die Bilder keine Rolle in diesen Debatten gespielt? Sind sie nicht auch Akteure der Kontroversen? Die Bilder, mit ihrer eigenen Sprache, reagieren auf sehr verschiedene Weise auf den medialen Diskurs. Eine Landschaft von Mattheuer, ein Sprachblatt von Carlfriedrich Claus, ein Holzschnitt von einem Laienkünstler aus Bitterfeld über den Vietnam-Krieg oder eine abstrakte Malerei von Hermann Glöckner reagieren heute unterschiedlich auf die Polemiken des Bilderstreites. Neben einigen Bildern wirken die Argumente haltlos; neben anderen sehen sie zutreffend aus. Einige Bilder machen heutzutage die angemahnte 'Versachlichung' sehr leicht, während andere sich ihr standhaft widersetzen. Die Bilder könnten als eigenständige Teilnehmer an den Auseinandersetzungen verstanden werden, wie soziologische Recherchen über Objekte (und Kunstwerke) als Akteure gezeigt haben. [3]

Letztendlich wird der Leser durch die mediensoziologische Dimension des Buches frustriert. Der Bilderstreit ist ein Medienstreit. Wäre es deshalb nicht sinnvoll gewesen, die Medienstruktur in Deutschland zumindest in Ansätzen mit zu untersuchen? Welche Funktionen haben die einzelnen Zeitschriften in der Medienlandschaft in Deutschland? Das Buch zitiert hauptsächlich Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Zeit, Der Tagespiegel, taz, Neues Deutschland, neue bildende Kunst, Berliner Zeitung. Es handelt sich offensichtlich um sehr unterschiedliche Zeitungen, mit unterschiedlichen Organisationen, Geschichte, Leserschaft, usw. Welche Beachtung fand und findet der Bilderstreit in den jeweiligen Redaktionen? Wann und warum beginnt und wann und warum endet das Interesse für jede Episode des Streits? Wer darf darüber schreiben? Wer darf nicht? Was sind die Verbindungen zwischen der Medienwelt und der Kunstwelt einerseits und der akademischen Welt andererseits? Zwar ist es wichtig, wie es die Herausgeber des Sammelbandes zeigen, die Stimmen zu Gehör zu bringen, dennoch erscheint es ebenso wichtig, zu verstehen, wie diese Stimmen in den Medien und darüber hinaus Bekanntheit erlangten. Schließlich drängt sich bei der Lektüre des Buches und danach immer wieder eine Hauptfrage auf: Wer hat heute die Macht, die Bedingungen der vermeintlichen 'Versachlichung' des Bilderstreites zu definieren?


Anmerkungen:

[1] Vgl. u.a. Günter Feist (Hg.): Kunstdokumentation SBZ, DDR: 1945-1990. Aufsätze, Berichte, Materialien, Museumspädagogischer Dienst Berlin in Zusammenarbeit mit der Stiftung Kulturfonds, Köln 1996; Karl-Siegbert Rehberg / Hans-Werner Schmidt (Hgg.): 60, 40, 20 - Kunst in Leipzig seit 1949, Ausst.-Kat. Leipzig, Leipzig 2009; Karl-Siegbert Rehberg / Wolfgang Holler / Paul Kaiser (Hgg.): Abschied von Ikarus. Bildwelten in der DDR - neu gesehen, Ausst.-Kat. Weimar, Köln 2012.

[2] Wir zitieren nur eine Publikation: Maria Todorova (ed.): Remembering communism. Genres of representation, New York 2010.

[3] Zum Beispiel: Bruno Latour / Peter Weibel (eds.): Making things public. Atmospheres of democracy, Cambridge, Mass. / London 2005.

Jérôme Bazin