Rezension über:

Bernard McGinn: Thomas Aquinas's Summa theologiae. A Biography (= Lives of Great Religious Books), Princeton / Oxford: Princeton University Press 2014, XI + 260 S., ISBN 978-0-691-15426-8, USD 24,95
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Rezension von:
Andreas Speer
Thomas-Institut, Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Speer: Rezension von: Bernard McGinn: Thomas Aquinas's Summa theologiae. A Biography, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 11 [15.11.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/11/26614.html


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Bernard McGinn: Thomas Aquinas's Summa theologiae

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Eine Besonderheit der liberals arts education an amerikanischen Universitäten ist das Great Books Seminar. Dessen Gegenstand ist nicht die kleinschrittige, subtile Analyse ausgewählter Passagen eines Klassikers, sondern nach Möglichkeit das gesamte Buch selbst: sein Gegenstand, seine großen Themen, seine Wirkungsgeschichte und Aktualität. Dies ist offensichtlich der Zugang, den Bernhard McGinn für seine "Biographie" der Summa theologiae (S.th.) des Thomas von Aquin wählt - ohne Zweifel eines der großen Bücher der literarischen Weltgeschichte: groß an Umfang, an Bedeutung und Wirkmächtigkeit.

Von diesem Leben eines großen religiösen Buches - so der Reihentitel - erzählt uns Bernard McGinn und macht damit den Fokus seiner Präsentation deutlich: Es geht vor allem um das theologische Werk; der philosophus Thomas von Aquin betritt nur am Rande die Bühne des Buches, das fünf Kapitel umfasst.

Das erste Kapitel zeichnet in knappen Strichen "The World That Made Thomas Aquinas". Der Anspruch der Überschrift mag ambitioniert klingen, die Durchführung ist eher bescheiden und kommt mit den Standardstichworten aus: die Entstehung der Universitäten und der scholastischen Theologie, zeitgleich die Entstehung der Mendikantenbewegung, darunter die Dominikaner, denen sich Thomas anschließt und nicht den Benediktinern, wie es die Familie vorgesehen hatte. Doch nicht Biographisches steht im Vordergrund - es geht ja auch nicht so sehr um den Autor, sondern um das Buch -, vielmehr hebt McGinn auch für Nichtspezialisten präzise die wesentlichen Merkmale des durch die aristotelische Wissenschaftstheorie maßgeblich geprägten neuen Verständnisses der Theologie als Wissenschaft hervor.

Das zweite Kaptitel "Creating the Summa theologiae" beginnt dann mit einem ausführlichen biographischen Teil, der den Kontext der Entstehung der S. th. nachzeichnen soll bis zum oft thematisierten Abbruch im dritten Teil und Thomas' baldigem Tod. Die mitunter ein wenig hagiographisch wirkende Darstellung folgt der allgemein anerkannten Standarderzählung Weisheipls, Tugwells und Torrells. Es folgt ein sehr kurzer Überblick über Thomas' Schriften und dann ein umfangreicher Abschnitt zur Absicht und zum Plan der S. th., der insgesamt sehr rhapsodisch wirkt und dem Leser, der Thomas' Buch selbst in die Hand nehmen möchte, wenig Orientierung bietet. Stattdessen verliert sich McGinn in den Diskussionen um den Aufbau der S. th. und den systematischen Ort der Christologie am Beginn des dritten Teils der S. th. Wer diese mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegenden Diskussionen nicht kennt, wird sich ein wenig verloren fühlen.

Die fehlende Übersicht über die S. th. findet sich zu Beginn von Kapitel 3, das eine "Tour" durch die S. th. bieten will. Nach einem hilfreichen schematischen Überblick über den Aufbau der drei umfangreichen Bücher der S. th. wendet sich McGinn diesen Büchern einzeln zu. Ein sehr allgemeiner Überblick wird kombiniert mit der genaueren Vorstellung eines besonderen Themas. Die Themen sind ausschließlich theologischer Natur: Gott, Schöpfung, Gnade, Liebe, Inkarnation. Dieses Kapitel endet mit der Frage, worin der große Erfolg der S. th. begründet liegt.

Mit dieser Frage leitet McGinn zum interessantesten Teil dieses Buches über: der Wirkungsgeschichte der S. th., die auf das engste mit der Herausbildung jener Denkschule zusammenhängt, die unter dem Stichwort "Thomismus" bis heute wirksam ist. Kapitel 4 behandelt zunächst "The Tides of Thomism" im Zeitraum von 1275-1830. McGinn unterteilt diesen großen Zeitraum zutreffend in vier Abschnitte. Der erste umfasst das erste halbe Jahrhundert nach Thomas' Tod im Jahre 1274 und macht deutlich, dass Thomas' Denken - anders als das gern gezeichnete Bild - zunächst für seine Zeitgenossen und unmittelbaren Nachfolger keinesfalls eine klassische Synthese zwischen Glauben und Vernunft darstellte, sondern gerade in seiner konsequenten Durchführung oftmals als provokativ, zumindest aber als Herausforderung empfunden wurde. So wird Thomas als einer der ersten Magister namentlich zum Gegenstand äußerst kontroverser Debatten, die unter dem Label "Thomismus" und "Antithomismus" gegenwärtig viel Interesse in der Forschung finden. Hierbei geht es sowohl um Debatten innerhalb des Dominikanerordens und um den Versuch der Generalkapitel, Thomas' Lehre für verbindlich zu erklären, wie auch um den sogenannten Korrektorienstreit zwischen Dominikanern und Franziskanern, und nicht zuletzt um Dispute innerhalb der Pariser Universität und um den Syllabus des Pariser Bischofs étienne Tempier vom 7. März 1277, durch den Thomas zumindest indirekt betroffen war. Am Ende steht Thomas' Heiligsprechung durch den Avignon-Papst Johannes XXII am 18. Juli 1323 und seine Erhebung zum doctor communis der Katholischen Kirche.

Der zweite Abschnitt reicht bis 1500 und wendet sich vor allem wieder der S. th. zu, die nun selbst Gegenstand der Kommentierung wird und weithin den Sentenzenkommentar als theologisches Lehrbuch zu verdrängen beginnt. Hinzu kommen Übersetzungen ins Griechische, die zu einem byzantinischen Thomismus führen, und sogar ins Hebräische. In diesen Zeitraum fällt auch die Begegnung mit den Denkern der Renaissance wie Marsilio Ficino und Pico della Mirandola. Keine zehn Jahre nach dem Erstdruck der Gutenbergbibel 1455 findet sich 1463 bereits ein Druck des am weitesten verbreiteten Teils der S. th., der Secunda Secundae, weitere 20 Jahre später 1484 der Prima pars.

Damit leitet McGinn über zum dritten Abschnitt, der die S. th. im Zeitalter der Reformation und der konfessionellen Spaltung porträtiert. Deutlich zeichnet er die Konfliktlinien nach, in die Thomas gerät. Für die Katholische Kirche gewinnt die S. th. vor allem nach dem Konzil von Trient immer mehr an Bedeutung als theologische Norm, während sie für viele Reformatoren zum Symbol jener Theologie wird, die sie bekämpfen. Wie sehr diese Frontlinien, in die vor allem die S. th. gerät, kontroverstheologischen Frontstellungen geschuldet sind, hat die neuere Forschung herausgearbeitet. Gleichwohl bedeutet insbesondere die nachreformatorische Zeit zugleich eine Blüte des Thomismus. Dies belegen unzählige thomistische Kurse in Philosophie und Theologie in vielen Sprachen.

Der vierte Abschnitt beschreibt dann in aller Kürze den Niedergang des Thomismus von der Mitte des 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Die philosophischen Denker der Neuzeit erheben den Anspruch, das Denken neu zu begründen und mit der longue durée scholastischen Denkens, das sich selbst in Kontinuität mit der Antike sah, zu brechen.

Dies ist der Hintergrund für das Entstehen des Neuthomismus, dem das fünfte Kapitel gewidmet ist. In drei Abschnitten beschreibt McGinn Aufstieg und Niedergang des klassischen Neuthomismus, der sich in Reaktion auf die Moderne entwickelt und Thomas in den Dienst eines oftmals kruden Antimodernismus stellt. Bedenkt man, dass Thomas zu seiner Zeit einer der Vorreiter der damaligen wissenschaftlichen Revolution war, so erscheint diese Indienstnahme als anachronistisch. Es ist letztlich die Hinwendung zu den authentischen Texten des Thomas selbst, die zum Niedergang des dogmatischen Neuthomismus und zu seiner Transformation in eine historisch-kritische Thomas-Forschung führen. Engagiert beschreibt McGinn diesen Vorgang, der sich nicht zuletzt mit Papst Leo XIII. verbindet, dessen Enzyklika Aeterni Patris Thomas als Kirchenlehrer etabliert und zugleich den Anlass zur Gründung der "Commissio Leonina" bildet, die sich bis heute der kritischen Edition der Werke des Thomas widmet. Dieses historisch-kritische Interesse für Thomas' Werk hat - so stellt es McGinn spürbar engagiert dar - auch den Antimodernismus des I. Vatikanischen Konzils überlebt und zu einer großen Varietät von Thomismen im 20. Jahrhundert geführt, für die Namen wie Gilson, Chenu, Garrigou-Lagrange, Maréchal, Lonergan, Rahner und von Balthasar stehen. In diesem Klima wird der Boden für das II. Vatikanische Konzil bereitet, in dem der "neue" Thomas von Aquin seine Rolle als doctor communis auf neue Weise wiedergewinnt - nun aber nicht mehr exklusiv, sondern im Dialog mit anderen Theologen.

Der kurze Epilog schlägt noch einmal die Brücke vom historischen Thomas zu seiner bleibenden Aktualität. Dies gilt auch und nicht zuletzt für die S. th., die - davon ist McGinn überzeugt - immer ein bedeutender Teil der philosophischen und theologischen Diskussion der westlichen Tradition bleiben wird. Dafür steht das vorliegende Werk, das gerade in den Kapiteln 4 und 5 zeigt, was ein großes Buch ausmacht: Es ist letztlich das Buch selbst, das seine Wirkmächtigkeit und Lebendigkeit, das die Debatten und Kontroversen evoziert. Dies lässt den Leser nicht gleichgültig. McGinns Darstellung ist ein Plädoyer für das "Große Buch" und für den Mut zu einer Lektüre nach Art der Great Book Seminars.

Andreas Speer