Anja Timmermann: Indigo. Die Analyse eines ökonomischen Wissensbestandes im 18. Jahrhundert (= Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte; Bd. 125), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2014, 416 S., ISBN 978-3-515-10863-8, EUR 62,00
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Die vorliegende, 2011 in Leipzig als Dissertation angenommene Studie fragt nach der Entwicklung des Wissensbestandes über den für die Industrialisierung der europäischen Textilwirtschaft in mehrfacher Hinsicht wichtigen Farbstoff Indigo im 18. Jahrhundert. Der Fokus liegt dabei auf einer Untersuchung des Transfers und der Zirkulation von Wissen zwischen Europa und den Anbaugebieten von Indigo in West- und Ostindien und der Rückwirkung dieser Prozesse auf textilwirtschaftliche Entwicklungen im Untersuchungszeitraum. Über einen Zeitraum von 100 Jahren untersucht Anke Timmermann etwa Faktoren wie die Bedeutung des anwachsenden Wissens über die Herkunft, die Eigenschaften und die Verarbeitungsmethoden von Indigo und deren Einfluss auf die Entwicklung von Innovationen in der europäischen Textilindustrie. Zu Recht verortet sie ihre Arbeit im Grenzbereich zwischen Wissens- und Wirtschaftsgeschichte.
Implizit trägt die Fallstudie damit auch zu der Diskussion um neue Perspektiven und Erklärungen für die Veränderungen der Textilindustrie in Nordwesteuropa bei, das ab den 1780er-Jahren (Nord-)Indien als führende Region in der Textilproduktion und -veredelung ablöste. Mit der Frage nach der Rolle von Wissen in diesem Prozess knüpft Timmermann an die Arbeiten Joel Mokyrs an, der die Bedeutung von Wissen für nachhaltiges ökonomisches Wachstum hervorhebt. [1] Ihre Arbeit sieht sich dabei gleichzeitig auch als Beitrag zu der Frage, wie die (west-)europäischen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts mit Wissen umgegangen sind, ja, ob und wie die Aufklärung die Systematisierung und das Zugänglichmachen auch von hoch spezialisiertem Wissen erst ermöglichte. Völlig zu Recht verweist Timmermann auf das Desiderat, auch für die vorindustrielle Zeit die Wissensgeschichte stärker mit der Wirtschaftsgeschichte zu verknüpfen (11). Angesichts der Bedeutung, der im Zusammenhang mit ihrer Untersuchung auch technischen und technologischen Innovationen zukommt, besteht dieses Desiderat allerdings zugleich für die Technikgeschichte.
Mittels der Auswertung von 43 allgemeinen und ökonomischen Enzyklopädien und weitverbreiteten Fachschriften des 18. Jahrhundert kann Timmermann nachzeichnen, wie sich das Kaufleuten und Unternehmern zugängliche Wissen über Indigo ausdifferenzierte und zu einem zunehmend öffentlichen Wissensbestand wurde. Sie kann dadurch Rückschlüsse ziehen, wie sich diese Entwicklung auf das Wirtschaften mit dem Farbstoff auswirkte.
Zur Erschließung des Wissensbestandes über Indigo umreißt Timmermann ein Set an Themenkategorien unter den vier Überpunkten "Produkt", "Handel", "Verwendung und Forschung", mit dem sie ihre Daten strukturiert. Das Ergebnis stellt tatsächlich eine profunde Übersicht über die Entwicklung jenes Wissens dar, über das Kaufleute und Unternehmer, so schränkt Timmermann zu Recht ein, zu einem bestimmten Moment verfügt haben könnten (21). So gelingt es ihr beispielsweise zu zeigen, wie sich das spezifische Wissen über die Herkunft, die Herstellung oder Merkmale, mit denen die Qualität der Handelsware geprüft werden konnte, entwickelte und verbreitete. Hinsichtlich der Frage nach dem Transfer von wirtschaftlich relevantem Wissen wird deutlich, in welchen Medien dasselbe veröffentlicht wurde, wie es sich verbreitete und woher die Verfasser spezifisches Wissen bezogen. Etwa zeigt sich am Einzelfall, wie die Wissensnetzwerke der Aufklärung mit der Liberalisierung des inner- wie außereuropäischen Handels, der Neuordnung von industriellen und gewerblichen Strukturen sowie der Vernetzung und der Erschließung von neuen Märkten verknüpft waren.
Die vergleichende Auswertung der Quellen verdeutlicht, wie sich mit zunehmendem Wissen über und zunehmendem Einsatz von Indigo ein hoch spezialisierter Wissensbestand entwickelte, der für Händler und Kaufleute von existenzieller Bedeutung war. Erkenntnisse über Einzelheiten der Herstellung von Indigo, die Angabe zur Herkunft aus beiden Indien und die Feststellung, dass die Varianten der Indigopflanze nur hinsichtlich der Klima- und Bodenverhältnisse, nicht aber für die Qualität relevant waren, ebenso wie Informationen darüber, wie die Güte von Indigo zu beurteilen war, bildeten in zunehmendem Maße nicht zuletzt die Grundlage für den gewinnbringenden Import. Über diesen Wissenstransfer geht jedoch die Auswirkung der Wissenszirkulation weit hinaus. Timmermann kann nachzeichnen, wie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf der Grundlage des nunmehr bekannten Wissens über den Farbstoff ein neues, spezifisch europäisches Fachwissen generiert wurde. Die Erkenntnis, dass Wissen wirtschaftlich nützlich war, führte eben nicht nur zu einem zunehmenden Wissenstransfer, sondern auch zur Begünstigung von Innovationen, die gezielt durch Preisschriften gefördert wurden. Gerade letztere hätten, so Timmermann, zwar einerseits mit den "Bestrebungen der merkantilistischen Ökonomen" in Zusammenhang gestanden, die fremden Farbstoffe durch heimische Rohstoffe zu ersetzten. Auf der anderen Seite aber waren es eben jene Bemühungen, die in "entscheidender Weise zur Wissensentstehung und -verbreitung beigetragen" hätten (361).
Auf Basis der sorgfältigen Auswertung der Quellen, die sich auch in den 18 Tabellen im Anhang widerspiegelt, kann Timmermann Fragen zu den Medien der Veröffentlichung von Wissen sowie nach der Herkunft von neuem Wissen und der Verbreitung von Wissen zwischen dem europäischen und dem globalen Markt beantworten. Im Großen und Ganzen zeigt sie damit, wie wichtig eine Verbindung von Wissens- und Wirtschaftsgeschichte für die Vormoderne sein kann. Gerade im Hinblick auf die Weiterentwicklung des akkumulierten Wissens aus Übersee hin zu einem dezidiert europäischen Spezialwissen hätte jedoch eine stärkere theoretische Fundierung hinsichtlich der Rolle von Wissenstransfer und Wissenszirkulation in globalgeschichtlicher und wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive der Arbeit eine über die Einzelstudie zur Textilindustrie und damit über die Wirtschaftsgeschichte hinausgehende Relevanz verleihen können. Insbesondere eine differenziertere Nutzung des Terminus "Zirkulation", für die jüngere Studien zur Globalgeschichte zahlreiche Anknüpfungspunkte bieten, hätte die Analyse noch zusätzlich schärfen können. [2] Insgesamt aber hat Timmermann eine gut lesbare und (wenngleich unter Inkaufnahme einiger inhaltlicher Wiederholungen in den einzelnen Analyseteilen) gut erschließbare Detailstudie zum Umgang mit wirtschaftlich relevantem Spezialwissen im 18. Jahrhundert vorgelegt, die die Rolle von Wissen für ökonomisches Wachstum und die Entstehung von Innovationen am Einzelfall exemplifiziert.
Anmerkungen:
[1] Joel Mokyr: The Gifts of Athena. Historical origins of knowledge economy, Princton / Oxford 2002; Ders.: The enlightened economy. Britain and the Industrial Revolution, London 2011.
[2] Vgl. dazu etwa Kapil Raj: Relocation modern science. Circulation and the construction of knowledge in South Asia and Europe, 1650-1900, Basingstoke 2007.
Sebastian Becker