Rezension über:

Stephan Scholz / Maren Röger / Bill Niven (Hgg.): Die Erinnerung an Flucht und Vertreibung. Ein Handbuch der Medien und Praktiken, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2015, 452 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-506-77266-4, EUR 39,90
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Rezension von:
Susanne Greiter
Ingolstadt
Empfohlene Zitierweise:
Susanne Greiter: Rezension von: Stephan Scholz / Maren Röger / Bill Niven (Hgg.): Die Erinnerung an Flucht und Vertreibung. Ein Handbuch der Medien und Praktiken, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2015, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 12 [15.12.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/12/25756.html


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Stephan Scholz / Maren Röger / Bill Niven (Hgg.): Die Erinnerung an Flucht und Vertreibung

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Auf dieses Buch hat man lange gewartet. Schon das Autorenverzeichnis des von Stephan Scholz, Maren Röger und Bill Niven herausgegebenen Handbuchs zur Erinnerung an Flucht und Vertreibung liest sich wie das Who's Who der Migrationsforscher. Es versammelt 35 miteinander vernetzte Kurzaufsätze des ungeheuer breiten Spektrums der Medien und Praktiken, die das kollektive Gedächtnis in den letzten sieben Jahrzehnten fütterten.

"Seit 70 Jahren ist die Zwangsmigration der Deutschen aus dem Osten am Ende und in der Folge des Zweiten Weltkrieges ein fester Bestandteil der deutschen Erinnerungskultur." (9) Hinter diesem bemerkenswerten Einleitungssatz des 452 Seiten umfassenden Werks müsste ein Ausrufezeichen stehen, markiert er doch einen Meilenstein auf dem Weg zur Historisierung des Themas "Flucht und Vertreibung" am Beginn einer Geschichtsschreibung ohne Zeitzeugen, also ohne die so gefragten Geschichtsvermittler mit ihren eigenen Erinnerungen an die Zeit des Zweiten Weltkriegs und dessen Folgen. Dieser programmatische Satz ist gleichzeitig ein Wegweiser für die Erinnerungskultur der Zukunft, weil er die Zwangsmigration der Deutschen und den Zweiten Weltkrieg zusammen denkt. Eine Weichenstellung, der das Design der Aufsatzsammlung Rechnung trägt, aus der einige Themen näher beleuchtet werden sollen. Auf der synchronen Ebene werden die Akteure des jeweils im Fokus stehenden Mediums ebenso wie Botschaften, Adressaten, Eigenlogiken und Reichweite in den Blick genommen. In diachroner Perspektive geht es dann um die erinnerungskulturelle Ebene, um Konflikte, Konjunkturen und Diskurse.

Zunächst gilt der Blick wenig beachteten medialen Bereichen der Auseinandersetzung mit Flucht und Vertreibung. Karina Berger widmet sich in ihrem nach Etappen der (west-) deutschen Nachkriegsgeschichte strukturierten Beitrag der Belletristik. Sie konstatiert, dass die Literaturwissenschaft selbst in Hochzeiten des Erinnerns an das Leid der vertriebenen Deutschen die sogenannte Vertreibungsliteratur links liegen gelassen habe. Bemerkenswert ist die Erkenntnis, dass die Jahrzehnte des vermeintlichen Tabus, nämlich die 1970er- und 1980er-Jahre, als sich die Aufmerksamkeit Hand in Hand mit dem politischen Wandel verstärkt auf die Opfer der Rassen- und Vernichtungspolitik des nationalsozialistischen Deutschland richtete, "eine große Anzahl an Vertreibungsromanen" (20) publiziert worden ist. Eindrucksvoll wird aufgezeigt, wie wenig erhellend, ja irreführend und die Komplexität des Erinnerungsdiskurses ausblendend der Begriff Tabu in der Beschreibung von Erinnerung und Gedächtnis ist. Berger bringt mit ihrer Analyse zudem die wichtige Kategorie der Generation ins Spiel. Mit dem beginnenden Erinnerungsboom der 1990er-Jahre entstanden nicht nur neue literarische Verarbeitungen aus der Erlebnisgeneration, auch eine deutlich jüngere Generation von Autoren meldete sich zu Wort. Intergenerationalität, Dynamisierung von Heimat, Fantasie und Verfremdung lautet das neue Paradigma.

Bill Niven beleuchtet im Anschluss die Belletristik der DDR. Er konstatiert gleich zu Beginn, dass Flucht und Vertreibung "ein Dauerthema der DDR-Literatur waren" (28), die nicht selten die staatlich verordnete "gelungene Integration" konterkarierte. Auch hier verschwindet das Tabu hinter dem Paradigma der Hybridität und Differenz.

Johanna Brade verweist auf eine Leerstelle der Forschung, nämlich die bildende Kunst, und dies in mehrfacher Hinsicht. Zum einen erscheint in der Tat überraschend, dass eine Pablo Picassos Gemälde "Guernica" vergleichbare "herausragende Erinnerungsikone" (41) an die Zwangsmigration der Deutschen bisher fehle. Hier hat womöglich die tief in das visuelle Gedächtnis eingebrannte Ikone des Flüchtlingstrecks alles überlagert. Zum anderen habe die Kunstgeschichte in der Bundesrepublik das Thema lange Zeit gar nicht oder nur am Rande beachtet. In ihrer Analyse stellt Brade einen direkten Bezug ihrer ausgewählten Beispiele zur nationalsozialistischen Kunstästhetik fest. Ebenso werden falsche Zuschreibungen von Bildern und die Verschränkung von NS-Propaganda und Zwangsmigration thematisiert. Damit lenkt sie den Blick auf das äußerst schwierige Feld von Fotografie und Wirklichkeitskonstruktion, Bildmanipulation und Propaganda.

An dieser Schnittstelle setzt der Aufsatz von Maren Röger und Stephan Scholz über "Fotografien als Spuren der Vergangenheit" an. Susan Sontag bezeichnete die Fotografie als Basis von "Memory freeze-frames". [1] Bilder brennen sich am besten ins Gedächtnis ein. Die Autoren wagen sich auf das Minenfeld der Deutung und verweisen auf die fälschliche (oder absichtliche?) Zuschreibung von NS-Propagandafotos der Umsiedlungsaktionen von "Volksdeutschen" am Beginn des Kriegs zu Flucht und Vertreibung an dessen Ende. Fotos als Abbildung der Wirklichkeit? Nein - keinesfalls, und ohne erklärenden Text bergen sie immer das Potenzial für Manipulationen in sich. Die Autoren machen selbst mit ihrem Beispiel einer "alternativen Perspektive" (157) der Flucht-Fotos des Fotografen Hanns Tschira mögliche Deutungsfallen transparent. Tschiras private Aufnahmen von der Flucht seiner Familie aus Schlesien haben nicht nur Seltenheitswert, sie entsprechen auch nicht dem gewohnten Bild des Dramas. Auf ihnen sind entspannte Menschen zu sehen, denen vor ihrer "Abreise" noch heiße Getränke auf dem Tablett serviert werden. [2] Zeigen diese "privaten" Fotos eher die "Wirklichkeit" als die konstruierten Fotografien der NS-Propaganda, welche die Autoren zu Recht als teilweise "gezielte Desinformation" (157) verorten? Sind die Fotos wirklich privat? Dem Leser wird vorenthalten, dass Hanns Tschira, ein bekannter Fotograf der 1920er- und 1930er-Jahre, Teil der nationalsozialistischen Propagandamaschinerie gewesen ist. Zudem war Lübchen in Niederschlesien nicht die Heimat der Familie, sondern wurde erst 1943 zum Fluchtort vor den Bomben in Berlin. Auch sagen die "privaten" Fotos nichts über ihren möglichen Konstruktionsgehalt aus. Röger und Scholz beleuchten darüber hinaus noch viele weitere Aspekte von Schlüsselbildern zur Zwangsmigration. Sie zeigen eindrücklich, wie viele Aufnahmen der NS-Agitationsfeldzüge über die Epochengrenze 1945 unkritisch weitertransportiert wurden und mit ihnen auch die nationalsozialistischen Narrative.

Die Aufsätze von Mathias Beer und Beata Halicka zu den Fachbüchern bzw. zur Erinnerungsliteratur zeigen, dass der wissenschaftliche Diskurs auf transnationaler Ebene unterschiedliche Perspektiven präsentiert. Beer, der seine schon früher geäußerte These der Bedeutung der sogenannten Ostdokumentation hier nochmals bekräftigt, entfaltet an diesem Beispiel einen komplexen Schirm der Konjunkturen von "Flucht und Vertreibung" im kulturellen Gedächtnis der Bundesrepublik. Seine polnische Kollegin hingegen kategorisiert dieses Unternehmen von unabhängigen Wissenschaftlern mit seiner großen Sammlung von Memoiren und autobiografischen Zeugnissen als "Narrativ des Kalten Krieges" (92). Zudem lässt sie den Leser mit ihrer Konzentration auf die Erinnerungen des sudetendeutschen Politikers Walter Becher unter der Überschrift "Ostpreußen: Ikone des Vertreibungskomplexes" (96f.) etwas ratlos zurück. Auf der Metaebene öffnet sich hier eine tiefe Kluft im transnationalen Erinnern.

Aber gerade diese Kontroverse(n) der Forschung lassen das Handbuch in seiner gelungen vernetzten Vielfalt unverzichtbar erscheinen. Es öffnet als Statement des gerade stattfindenden Paradigmenwechsels ein Fenster in die Zukunft der Erinnerung an Flucht und Vertreibung. Der Imperativ der Kontextualisierung, des Zusammenführens der beiden bislang strikt getrennten Opferdiskurse erscheint bereits als Selbstverständlichkeit, ebenso wie die analytische Verwendung der Kategorien von Raum, Generationalität und Transnationalität. Das Verschwimmen von Grenzen, Dynamik und Vielstimmigkeit werden zu einer Signatur, die auf Auflösung ideologischer und ideologisierter Kontexte drängt. Die dargelegten Leerstellen der Forschung machen das Handbuch zudem zu einem nützlichen Wegweiser für künftige Projekte.


Anmerkungen:

[1] Susan Sontag: Regarding the Pain of Others, New York 2003, 22.

[2] Lucia Brauburger: Abschied von Lübchen. Bilder einer Flucht aus Schlesien. Mit Fotografien von Hanns Tschira, Berlin 2005, 100.

Susanne Greiter