Karsten Uhl: Humane Rationalisierung. Die Raumordnung der Fabrik im fordistischen Jahrhundert (= Histoire; Bd. 62), Bielefeld: transcript 2014, 400 S., ISBN 978-3-8376-2756-5, EUR 39,99
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In seiner anregenden Habilitationsschrift rekonstruiert der an der Technischen Universität Darmstadt lehrende Karsten Uhl am Beispiel von drei Unternehmen, "wie der Umgang mit dem Faktor Mensch in einer permanent weiter rationalisierten Fabrik als Problem gefasst wurde." (24) Innovativ ist sein Herangehen auch deshalb, weil sich sein Untersuchungszeitraum vom späten 19. Jahrhundert bis in die Zeit "nach dem Boom" [1] erstreckt.
Damit unterläuft er die klassischen Periodisierungen der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert. Stattdessen fokussiert er in Anlehnung an Rüdiger Hachtmann und Adelheid von Saldern auf das fordistische Jahrhundert. [2] Fordismus versteht er dabei nicht als starres Produktionsregime, sondern als eine Pluralität von Produktionsformen - von der einfachen Fließbandfertigung bis zur vollautomatischen Fabrik. Das verbindende Moment dieser verschiedenen Variationen bestehe in der (tayloristischen) Annahme, dass die Produktion bis ins kleinste Detail nach wissenschaftlichen Kriterien der Effizienz organisiert werden könne. Die epochale Relevanz des Fordismus liege in der Vorstellung, dass er auf nahezu alle Bereiche der Gesellschaft und des menschlichen Zusammenlebens übertragen werden könne. Methodisch-theoretisch rekurriert Uhl auf das Foucaultsche Konzept der Gouvernementalität, das "die Art und Weise [beschreibe], auf welche die Lenkung der Individuen durch andere mit ihrer Selbstführung verbunden wird." (17) Folglich begreift er den Fordismus nicht als bloßes Repressionsinstrument, das durch äußeren Zwang funktioniere. Vielmehr hätten die Arbeiterinnen und Arbeiter viele der ihnen abverlangten Anforderungen sukzessive internalisiert, allerdings ohne völlig unter das Produktionsregime subsumiert zu werden. Um diesen ambivalenten Prozess zu fassen, bezieht sich Uhl auf die von Alf Lüdkte geprägte Kategorie des "Eigen-Sinns" und überträgt sie auf die Raum-Ordnung der Fabrik. Er intendiert folglich, den Verhaltensweisen der Arbeiterinnen und Arbeiter nachzuspüren, die weder als Unterordnung noch als offener Widerstand zu verstehen sind, also beispielsweise Gespräche im Kollegenkreis oder Herumspazieren am Arbeitsplatz.
Deshalb widmet sich der Autor zunächst der Analyse von Fotografien aus dem Fabrikalltag, um Veränderungen in der Arbeitsorganisation deutlich zu machen. Durch Berücksichtigung dieser bislang meist vernachlässigten Quellengattung in der Geschichtsschreibung über Arbeit und Arbeiter wird der (Fabrik-)Raum als Aushandlungsort von Machtverhältnissen auf der Mikroebene des Betriebs analysierbar. Dabei grenzt Uhl auch die verschiedenen Formate der Aufnahmen ab, von der Selbstdarstellung der Unternehmen bis zur subversiven Arbeiterfotografie.
Es folgt ein Kapitel über Funktion und Ästhetik in Architektur und den Arbeitswissenschaften, in dem die Entwicklung und Bedeutung der betrieblichen Sozialpolitik anhand der Raumgestaltung diskutiert wird. So arbeitet der Autor beispielsweise die ambivalente Rolle von Speise- und Sanitätsräumen heraus, um seine wichtigste These zu unterstreichen: "Ich möchte die zeitliche wie die inhaltliche Trennung dieser vermeintlich dichotomen Ansätze - Taylorismus/Fordismus einerseits und Humanisierung der Arbeit andererseits - in Frage stellen: Inwieweit liefen die vermeintlich getrennten Bemühungen zur fordistischen Rationalisierung und zur Humanisierung der Fabrik bereits zu Beginn des fordistischen Jahrhunderts weitgehend simultan und teilten gemeinsame Ziele?" Diese erkenntnisleitende Fragestellung zieht sich durch die drei konkreten Unternehmensstudien.
Am Beispiel von Klöckner-Humboldt-Deutz (KHD) in Köln zeigt Uhl, wie die dortige Personalpolitik den Arbeitern frühzeitig einen gewissen Freiraum ließ und die dadurch entstehende Eigenmotivation im Sinne der Rationalisierung zu nutzen wusste. Eine wichtige Rolle kam hierbei dem Direktor Helmut Stein zu, der mehrmals in den USA Fabriken besichtigt hatte und neue Produktionsmethoden adaptierte. Folglich setzten sich deutsche Ingenieure schon in den 1920er-Jahren mit tayloristischen Verfahren auseinander. Die "Amerikanisierung" verlief als hybrider Prozess, der zwischen einer ressentimentgeladenen Abneigung gegen die "kulturlose neue Welt" und der Bewunderung von Effizienz schwankte. Ferner kann Uhl plausibel belegen, dass die Entdeckung des (modernen) Personalmanagements kein Phänomen der Umbruchprozesse in den 1970er-Jahren darstellt.
Anhand der Augsburger Kammgarn-Spinnerei (AKS) untersucht der Autor die Kontinuität der paternalistisch-patriarchalen Maßgaben folgenden Sozialpolitik von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Epoche "nach dem Boom". Anknüpfend an Carola Sachse argumentiert er, dass "die Konzeption der Betrieblichen Sozialpolitik sich nicht in Opposition zu den arbeitswissenschaftlich fundierten Rationalisierungsmaßnahmen" (229) befinde, sondern ein Komplement darstelle. Wegen des hohen Anteils weiblicher Beschäftigter von über 50 Prozent seit den 1930er-Jahren sei auf personalpolitische Experimente fast vollständig verzichtet worden. In der Persistenz dieses unternehmerischen Paternalismus manifestiere sich also deutlich eine geschlechtsspezifische Sichtweise, die aus den unterschiedlichen Fähigkeiten resultiere, die männlichen und weiblichen Arbeitskräften zugeschrieben wurden.
Als dritte Betriebsstudie dient das Süßwarenunternehmen der Stollwerck AG. Uhl zeigt, dass abhängig vom jeweiligen Produktionsprozess in verschiedenen Unternehmensabteilungen auch unterschiedliche Formen der Machtausübung praktiziert wurden. Diese hätten allerdings keineswegs zum Ziel gehabt, den "Eigen-Sinn" der Arbeiterinnen und Arbeiter gänzlich zu brechen, sondern die Effizienz zu steigern. Es sollte die "externe Disziplinierung durch eine internalisierte Form der Selbstdisziplin" (306) ersetzt werden, wie paradigmatisch anhand der nationalsozialistischen Schriften des Amtes Schönheit der Arbeit sichtbar werde. Die Disziplinierung sei aber niemals gänzlich abgeschafft worden. Bei der Stollwerck AG lasse sich die Pfadabhängigkeit auch nach 1945 klar erkennen. Mit vielen schlecht bezahlten Arbeitskräften betrafen die ambivalenten Strategien der Machtausübung seit den 1960er-Jahren dann vor allem Gastarbeiterinnen, die als Frauen und Nicht-Deutsche einer doppelten Diskriminierung unterworfen waren.
Methodisch sinnvoll, aber nicht ganz überzeugend ist Uhls Exkurs zu den DDR-Betrieben. Der Vergleich mit dem ostdeutschen Staat ist nötig, um zu eruieren, ob es eine spezifisch deutsche Spielart des Fordismus gibt oder ob die Differenzen zwischen kapitalistischer Marktwirtschaft und realsozialistischer Planwirtschaft überwiegen. Uhl zeigt vielfältige Parallelen auf, allerdings nur anhand der Auswertung von Sekundärliteratur. Ertragreicher wäre es sicherlich gewesen, entweder statt einem der drei westdeutschen Betriebe einen ostdeutschen Betrieb zu untersuchen oder eben ein viertes Beispiel mit heranzuziehen.
Dennoch gelingt es Uhl, seine Hauptthesen nachvollziehbar zu begründen, nämlich dass in der deutschen Ausprägung des Fordismus der "Faktor Mensch" seit den 1920er-Jahren eine wichtige Rolle einnahm und das subjektive Potenzial auf unterschiedliche Weise nutzbar gemacht wurde. Dadurch seien die Effizienz gesteigert und zugleich Möglichkeiten für den "Eigen-Sinn" der Arbeiterinnen und Arbeiter eröffnet worden. Die Fokussierung auf die Mikroebene des Betriebs relativiert die Zäsur der 1970er-Jahre zumindest im Hinblick auf die Industriearbeit. Uhl bestreitet nicht, dass damals wichtige Veränderungen eintraten, interpretiert diese aber als Beschleunigung und Zuspitzung bereits vorhandener Tendenzen.
Die Studie führt dem Leser die Notwendigkeit vor Augen, weitreichende Thesen über die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise auch anhand konkreter Untersuchungen auf der Mikro-Ebene auszudifferenzieren. Die Geschichtswissenschaft kann dadurch soziologische Theorien modifizieren helfen, auf die Uhl in seiner Untersuchung immer wieder Bezug nimmt. Damit entfaltet sie auch ihre Erkenntniskraft für ein Verständnis der Gegenwart.
Anmerkungen:
[1] Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008.
[2] Rüdiger Hachtmann / Adelheid von Saldern: Das fordistische Jahrhundert. Eine Einleitung, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 6 (2009), Nr. 2, 174-85.
Sebastian Voigt