Günther Schulz (Hg.): Arm und Reich. Zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ungleichheit in der Geschichte (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beihefte; Bd. 229), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2015, 304 S., ISBN 978-3-515-10693-1, EUR 54,00
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Arm und Reich: Der Blick auf beide soziale Antipoden ist nicht nur ein aktuell brisantes gesellschaftliches Thema, sondern wird auch zunehmend innerhalb der Fachwelt entdeckt: Erinnert sei etwa an den Dresdener Historikertag von 2008 mit dem Oberthema "Ungleichheiten". Seither, so ist sieben Jahre später zu konstatieren, regt sich spürbar das Interesse am Gegenstand, was auch der zu besprechende Sammelband belegt. In diesem werden die Vorträge und Korreferate der 24. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vom März 2011 in Bonn versammelt. Vorab charakterisiert der Herausgeber Günther Schulz in einer kurz gehaltenen Einführung die Analyse des Gegensatzpaares Arm und Reich als "Königsweg sozialwissenschaftlicher, sozial- und wirtschaftshistorischer Forschung" (9). Der Sammelband setzt sich das herausfordernde Ziel, diese Divergenz aus verschiedenen Blickwinkeln zu historisieren.
Da sich nicht allen hier versammelten Beiträge en detail gewidmet werden kann, sollen nur einige wenige Beobachtungen notiert sowie Stärken und Leerstellen benannt werden: Den Auftakt bildet Stefan Hradil, der aus sozialwissenschaftlicher Blickrichtung gewohnt zuverlässig skizziert, wie Armut heutzutage wahrgenommen und bewertet wird und woher die nicht selten weit auseinanderdriftenden Bewertungen und letztlich kontroversen Armutsdiskurse stammen. Dabei macht er deutlich, dass die schon per se komplexen Definitionsfragen in der Öffentlichkeit meist unreflektiert aufgegriffen werden und deswegen bestimmte Entwicklungstendenzen (schwächt sich Armut ab oder verschärft sie sich?) ein hochgradig umstrittenes Kontroversthema sind. Hradils Vorschlag zum Umgang mit der "Unterschicht" verdient besondere Erwähnung, kommt dieser doch wohltuend sachlich daher: Eine moralische Verurteilung mitsamt Forderungen nach finanziellen Sanktionen und stärkeren Kontrollen seien ebenso fehl am Platz wie eine Pauschalisierung und Dramatisierung der tatsächlichen Zustände. Als wahren Adressaten jener von moralischen Verdikten und Verurteilungen geprägten Armutsdebatten macht er letztlich die Mittelschicht aus.
Einige weitere Beiträge widmen sich Fragen der Wahrnehmung, was wiederum anregende Einblicke in die Herkunft heutiger Beurteilungsmuster sozialer Ungleichheit liefert. Bernd Fuhrmann etwa vermag für das Mittelalter eine Unterthematisierung sowohl von alltäglicher Armut - obgleich oder gerade weil diese eine "soziale Konstante der mittelalterlichen Stadt" (37) darstellte - als auch generationenlangen Reichtum nachweisen. Während beide Themen in den herangezogenen städtischen Chroniken kaum behandelt wurden, wurde rascher sozialer Aufstieg durchaus kritisch gesehen und insgesamt als Störung einer imaginierten harmonischen Stadtgesellschaft begriffen. Die zeitgenössisch klare Unterscheidung unterstützungsberechtigter von unberechtigten Bettlern liefert ebenfalls wichtige Hinweise auf eine Binnendifferenzierung bei der damaligen sozialen Perzeption von "Armen", die sich stets nach der Frage um Selbst- und Fremdverschuldung ausrichtete. Der Akzeptanz sozialer Unterschiede wendet sich auch Petra Schulze zu und untersucht diese für das franko-burgundische Spätmittelalter. Hier lässt die höfische Perspektive in der ausgewerteten moraldidaktischen Literatur die Prinzipien Gerechtigkeit und sozialer Ausgleich ebenso erkennen wie zeittypische Warnungen vor einer zu weit auseinanderklaffenden "Schere" zwischen Arm und Reich und Rufe nach der Notwendigkeit einer stabilen, breiten Mittelschicht. Mit Existenz- und Wahrnehmungsformen distributiver Armut, und zwar für die Vormoderne, beschäftigt sich Sven Rabeler. In seinem Beitrag plädiert er thesenstark, wenn auch sicher diskussionswürdig dafür, die üblicherweise für die Zeit um 1800 veranschlagte Zäsur, als der Zusammenhang von Armut und Arbeit entdeckt worden sei ("labouring poor"), zu relativieren und den Begriff Pauperismus für die Vormoderne zu erproben. Hochplausibel ist sodann Wilfried Rudloffs Phasenmodell zu Dynamiken von Armutsbildern, -politiken und -regimen in Deutschland von 1880 bis 1960. Die grundsätzlich binäre Codierung von Armutsbildern machte sie für die sozialadministrative Praxis anschlussfähig. Die jeweiligen Leitdifferenzen ("Würdigkeit" im Kaiserreich; "Bedürftigkeit" in der Weimarer Republik und "erbbiologische Wertigkeit" im NS-Regime) sind zwar mit dickem Strich gezeichnet, doch durchaus bestechend, strukturierten sie doch die jeweiligen Armutsregime, kreierten Lösungsstrategien des Armutsproblems und determinierten zeittypische In- und Exklusionslogiken.
Neben diesen wahrnehmungshistorischen bzw. -theoretischen Texten behandeln auch die wirtschaftshistorisch ausgerichteten Beiträge anregende, diachron angelegte Aspekte, ob zu Geldentwertung als Ursache für Armut (Philipp Robinson Rösner), dem Problem globaler Vermögensverteilung und möglichen Rückschlüssen auf das Heute (Andreas Exenberger), ökonomischen Diagnosen und sozialpolitische Lösungsvorschläge hinsichtlich ökonomischer Ungleichheit (Karl-Heinz Schmidt) oder den Dynamiken des Sozialstaatsparadigmas (Welf Werner). Hans Christian Petersen wiederum nähert sich der sozialräumlichen Differenzierung in Sankt Petersburg, Wien und London zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges an. Seine zentrale These, die "Gentrifizierung", also markante Verschiebungen bzw. Verdrängungen innerhalb der sozialen Topgrafie, sei ein "historisch wirksames Muster sozialräumlicher Differenzierung" (204), korrespondiert mit Roman Sandgrubers Ausführungen zur Finanzelite der Habsburgermonarchie. Mithilfe von Einkommenssteuerlisten kann dieser nicht nur statistische und kollektivbiografische Aussagen zu den damaligen Reichen treffen, sondern auch regionale und konfessionelle Unterschiede markieren sowie Symboliken reicher Lebenswelten andeuten. Etwas aus der Reihe fällt der Beitrag Jana Geršlovás zur sozialen Entwicklung in der Tschechoslowakei vor und nach 1989. Die spannende Frage, wie das Begriffspaar "arm" oder "reich" im Staatssozialismus konnotiert war und welche Veränderungen sich diesbezüglich nach der gesellschaftlichen Transformation erkennen ließen, wird dort allerdings nicht berücksichtigt.
Insgesamt kann festgehalten werden, dass der Sammelband zum Nachdenken über soziale Ungleichheit anregt. Ein großer Vorzug ist die gewählte Langzeitperspektive: Vom Spätmittelalter bis zur jüngsten Zeitgeschichte stellen die einzelnen Artikel ein buntes Panorama an Gemeinsamkeiten und Unterschieden sozialer Bewertungen dar, sie offerieren realhistorische Befunde ebenso wie eher diskursiv-ideengeschichtlich gehaltene Analysen, wobei soziologische, sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Perspektiven eine insgesamt gelungene Symbiose eingehen. Diese breite Anlage ist zweifellos erfreulich, und dennoch kann der Band nicht restlos überzeugen, und zwar weniger wegen der teils hervorragenden Einzelbeiträge. Jedoch weicht das im Titel versprochene "und" zwischen "Arm" und "Reich" viel zu oft einem "oder": Zumeist wird allenfalls angedeutet, wie sich beide Pole eigentlich zueinander verhalten bzw. verhielten; abgesehen von wenigen Ausnahmen wird so häufig nur eine Seite der sozialen Medaille beleuchtet, zu selten auf verbindende normative oder diskursive Kategorien - zu denken wäre etwa an Moral und Ehrlichkeit, Arbeit und Leistung - geblickt. Diesen Fragen systematisch wie konzeptionell noch verstärkt nachzugehen, wäre die Aufgabe künftiger Forschung.
Christoph Lorke