Hans Peter Obermayer: Deutsche Altertumswissenschaftler im amerikanischen Exil. Eine Rekonstruktion, Berlin: De Gruyter 2014, XXVI + 750 S., 22 Abb., ISBN 978-3-11-030279-0, EUR 149,95
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Die Vertreibung und Emigration deutscher Altertumswissenschaftler während des 'Dritten Reichs' ist bis heute nicht umfassend dargestellt worden; lange Zeit wurde dies sogar nicht einmal als Aufgabe begriffen. Obermayer würdigt einleitend die Pionierleistungen von William M. Calder III, Volker Losemann und Walther Ludwig und verweist auf die mittlerweile sich mehrenden Geschichten einzelner Universitäten während der Zeit des Nationalsozialismus (1-6). Hinzu kommen biographische Darstellungen einzelner Gelehrter, wobei die zahlreichen Studien eines weiteren Pioniers der Wissenschaftsgeschichte, Eckart Mensching hervorgehoben seien (Nugae zur Philologie-Geschichte I-XIV, Berlin 1987-2004). In der Regel sind aber diese Darstellungen hinsichtlich des Schicksals der Emigrierten recht summarisch, so dass ihre Schwierigkeiten und Gefährdungen mehr zu erahnen als wirklich fassbar sind.
Hier setzt Obermayer an, indem er sich bemüht, zehn Lebensläufe aus dieser Epoche in allen Details nachzuzeichnen, bis zur "endgültigen Stabilisierung der beruflichen Situation" in den Vereinigten Staaten (17). Es sind dies: Margarete Bieber (1879-1978) - Karl Lehmann-Hartleben (1894-1960) - Elisabeth Jastrow (1890-1981) - Otto Brendel (1901-1973) - Kurt von Fritz (1900-1985) - Ernst Kapp (1888-1978) - Paul Oskar Kristeller (1905-1999) - Ernst Abrahamsohn (1905-1958) - Ernst Moritz Manasse (1908-1997) - Paul Friedländer (1882-1968). Dies ist eine Auswahl aus einer sehr viel größeren Zahl; [1] Obermayer aber kommt es darauf an, einige exemplarische Studien mit größtmöglicher Genauigkeit vorzulegen. Er ist dazu imstande, weil er erstmals neben den oft erstaunlich reichhaltigen Privatnachlässen der Gelehrten auch Akten verschiedener deutscher und amerikanischer Universitäten - vor allem die des Classics Departments der Columbia University New York - und die Akten der drei wichtigsten Hilfskomitees auswertet. Dies waren: das Academic Assistance Council - Society for the Protection of Science and Learning in London, das Emergency Committee in Aid of Displaced German Scholars in New York und der Oberlaender Trust in Philadelphia (19-22).
Angesichts seiner ohnehin gewaltigen Arbeit verständlich verweist Obermayer für diese Hilfskomitees auf die vorhandene Literatur (20, Anm. 61) und lässt sie nur jeweils punktuell in seinen Biographien tätig werden. Die gewährten Beiträge werden in zwei Listen, geordnet nach den gebenden Institutionen und nach den Empfängern, aufgeführt (685-695). [2] Damit werden freilich der Umfang und die Bedeutung dieser Hilfsaktionen nur sehr unzureichend reflektiert; dies schon im Hinblick auf die Spender: "Elle fut à l'origine d'un des actes de générosité les plus importants de l'histoire de la République des Lettres, ayant été financé au début par des contributions volontaires, s'élevant quelquefois à 10 % des salaires des universitaires britanniques" bemerkt Oswyn Murray in einem kurzen Überblick. [3] Und dies zur Zeit der Weltwirtschaftskrise, in der die Mittel knapp waren und der einheimische Nachwuchs ebenfalls um seine Stellen bangen musste. Auf die deutschen Emigranten hat damals - außer in der Türkei, die mit deren Hilfe ihre Universitäten aufbaute [4] - fast niemand gewartet; [5] um so bemerkenswerter ist die immense Arbeit dieser Komitees. Gar nicht zu überschätzen ist aber auch die Bedeutung der Emigranten für die Entwicklung der Wissenschaften in England und in den USA. Darauf hat etwa Calder wiederholt hingewiesen; Murray bemerkt lakonisch: "Il s'agit du transfert le plus important de la culture occidentale depuis la chute de Byzance."
Die einzelnen Porträts beginnen jeweils mit einer kurzen Skizze der beruflichen Karriere bis zur Entlassung aus dem Staatsdienst in Deutschland. Es folgen die Stationen der Emigration, häufig mit Aufenthalten und Tätigkeiten in England oder auch in Italien, wo bis zur antisemitischen Gesetzgebung des August 1938 durch die Vermittlung von Giovanni Gentile Kristeller sogar an der Scuola Normale Superiore in Pisa Deutsch unterrichten durfte (432). [6] Mit unerbittlicher Genauigkeit zeichnet Obermayer die vielfältigen Versuche nach, noch in Deutschland selbst und dann irgendwo anders beruflich Fuß zu fassen, und dann die Schwierigkeiten, überhaupt nach den USA einreisen zu dürfen. Nur bei einer (temporären) Anstellung war die Einreise mit non-quota visa möglich; in der Mehrzahl der Fälle ging es nur mit Visitor's visa, wobei dann in kurzer Zeit eine Anstellung gesucht werden und bei einem amerikanischen Konsulat im Ausland (vor allem in Havanna auf Cuba) die Umwandlung in ein non-quota visa erreicht werden musste. Alle diese Stationen und dann die Etappen der beruflichen Eingliederung in den USA werden im Anhang tabellarisch zusammengefasst (675-685).
Es handelt sich bei aller Gleichförmigkeit der Situation doch um sehr individuelle Schicksale, bisweilen sogar um Zufälle. Margarete Bieber hatte bereits 1931/32 ein Stipendium der American Association of University Women erhalten, was später den Übergang in die USA sehr erleichterte (36). Auch Lehmann-Hartleben und von Fritz waren bereits prominent genug, um verhältnismäßig schnell Professuren zu erhalten. Mühsamer war dies schon für Kapp, obwohl sich sein Freund von Fritz für ihn einsetzte. Gerade der zu diesem Zeitpunkt wohl prominenteste, Friedländer, hatte das härteste Schicksal. Als Teilnehmer am Ersten Weltkrieg wurde er erst zum 31. Dezember 1935 in den Ruhestand versetzt und wartete bis 1938, ehe er eine Position im Ausland anstrebte. Nach einer Vortragsreise in die USA musste er im Frühjahr 1938 nach Deutschland zurückkehren und wurde, während sich Verhandlungen über eine erneute Einladung hinzogen, im November bis Mitte Dezember 1938 im KZ Sachsenhausen inhaftiert. Seine Freilassung verdankte er wesentlich der Intervention der befreundeten Theologen Rudolf Bultmann und Hans Lietzmann (635-636). Im August 1939 konnte Friedländer dann endgültig ausreisen.
Generell ist auffallend, in welchem Ausmaß in Deutschland verbliebene Gelehrte für die Verfolgten empfehlend und gutachterlich im Ausland tätig geworden sind, vor allem Ludwig Curtius, Gerhart Rodenwaldt, Eduard Schwartz und Bruno Snell, aber sogar ein Martin Heidegger für Kristeller (411-418). Obermayer notiert dies jeweils, würdigt dies aber nicht besonders. Kritisch äußert er sich wiederholt zu Werner Jaeger (bes. 24-30), der sich trotz seiner eigenen gesicherten Position gegenüber den emigrierten Kollegen sehr zurückhaltend verhielt. Nur gelegentlich scheint auch auf, dass es an amerikanischen Universitäten durchaus Vorbehalte gegenüber Juden gab; im Falle von Brendel - der wegen seiner jüdischen Frau emigrieren musste - wird die erleichterte Feststellung thematisiert: "he is pure Aryan" (196-199). Die Zeit, in der dem hoffungsvollen jüdischen Nachwuchswissenschaftler Harry Caplan seine Lehrer an der Cornell University brieflich am 27. März 1919 von einer akademischen Karriere abgeraten hatten, war noch nicht lange her.
Seine Biographien beendet Obermayer mit der endgültigen Etablierung in den USA und wirft nur allenfalls noch einen kurzen Blick auf die Zeit nach 1945. Da bleibt noch ein Feld für weitere Studien über unterbliebene, abgelehnte oder gescheiterte Rückberufungen an die früheren Universitäten. Die verbreitete Auffassung, man habe sich kaum um die Rehabilitierung der vertriebenen Kollegen bemüht, ist jedenfalls viel zu pauschal. [7]
Obermayers Werk ist in seiner Materialfülle und Detailfreudigkeit keine einfache Lektüre. Um so eindrucksvoller stellt sie aber Flüchtlingsschicksale dar, an die sich zurückzuerinnern unsere Gegenwart leider wieder sehr nahe legt.
Anmerkungen:
[1] Vgl. etwa Heike Scharbaum: Zwischen zwei Welten: Wissenschaft und Lebenswelt am Beispiel des deutsch-jüdischen Historikers Eugen Täubler (1879-1953), Münster 2000; Astrid Lindenlauf: Georg Heinrich Karo (11.1.1872-12.11.1963): "Gelehrter und Verteidiger deutschen Geistes", Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 130, 2015 (im Druck).
[2] Angesichts der sehr bescheiden wirkenden Summen ist zu bedenken, dass damals ein gut verdienender Universitätsprofessor in den USA kaum mehr als 7.000 $ im Jahr (!) erhielt; die Tabellen illustrieren also auch die seitherige ungeheure Geldentwertung, gerade auch der Leitwährung.
[3] Le repentir de Gilbert Murray, in: Marc Fumaroli / Antoine Compagnon (éds.): La République des Lettres dans la tourmente (1919-1939). Paris 2011, 125-134 (Anm. 7 und 8 weitere Literaturhinweise); demnächst auch: Sally Crawford / Katharina Ulmschneider (eds.): Ark of Civilization. Oxford and refugee academics in the arts during WWII, Oxford University Press (im Druck).
[4] Eine altertumswissenschaftliche Fallstudie: E. Mensching: Walther Kranz: Die Jahre in Istanbul, in: Nugae XIV, Berlin 2004, 36-83.
[5] Beklemmend geschildert von Erich Maria Remarque: Liebe deinen Nächsten, Stockholm 1941. In Basel durfte etwa der mit Peter Von der Mühll bekannte Kurt von Fritz noch nicht einmal bezahlte Vorträge halten, "da die Fremdenpolizei sehr streng ist und jede Tätigkeit, die Geld einbringen kann, unterbindet "(Brief vom 26.5.1935: Obermayer 260); vgl. Manu Leumann in Zürich am 25.2. 1935 an Bruno Snell: "[...] weil von Regierungsseite her durch die Eidgenöss. Fremdenpolizei jeder Versuch einer Niederlassung im Hinblick auf einheimische Arbeitslose durch alsbaldige Ausweisung unterbunden wird" (257).
[6] Seine Entlassung konnte selbst die persönliche Intervention Gentiles bei Mussolini nicht verhindern, der aber Kristeller eine Entschädigungssumme in einem Umschlag auf dem Polizeipräsidium in Rom aushändigen ließ (502 Anm. 318).
[7] Eine wichtige Fallstudie: Isolde Stark: Die mißlungenen Berufungen von Richard Laqueur nach Halle und Berlin zwischen 1946 und 1948, in: Thomas Brüggemann u.a. (Hgg.): Studia Hellenistica et Historiographica. Festschrift für Andreas Mehl, Gutenberg 2010, 413-435.
Jürgen von Ungern-Sternberg