Inke Beckmann: Geflügel, Austern und Zitronen. Lebensmittel in Kunst und Kultur der Niederlande des 17. Jahrhunderts, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2014, 464 S., 26 Farb-, 100 s/w-Abb., ISBN 978-3-534-25913-7, EUR 79,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Beim Schreiben dieses Buches hat die Autorin sich einer 3D-Brille bedient. Indem sie Einsichten aus drei historischen Subdisziplinen äußerst fruchtbar miteinander verknüpft, entsteht ein Kaleidoskop des vielvorkommenden Motivs der Naturalien Geflügel, Austern und Zitronen in der Malerei des niederländischen Goldenen Jahrhunderts. Inke Beckmann beleuchtet Bedeutung und Nutzung dieser drei Lebensmittel aus wirtschafts-, mentalitäts- und ernährungshistorischer Perspektive. Dabei liegt ihre Ausgangsposition ganz klar im kunsthistorischen Bereich. Ist es doch die künstlerische Wiedergabe der besagten Nahrungsmittel in verschiedenen Malereigattungen, die die gelernte Kunsthistorikerin und Historikerin zu ihrer Studie inspiriert hat. Was diese Untersuchung, mit der Inke Beckmann 2014 an der Universität Göttingen promoviert wurde, allerdings auszeichnet, ist die gekonnte Einbeziehung historischer Arbeitsmethoden in ihre Analyse. Erst dadurch entsteht ein repräsentatives Bild des semantischen Wirkungspotentials von Geflügel, Austern und Zitronen in der niederländischen Kultur des 17. Jahrhunderts.
Die künstlerische Wiedergabe von Lebensmitteln der Vormoderne war auf bestimmten Regeln basiert. Diese Darstellungskonventionen ihrerseits verraten viel über den Stellenwert der jeweiligen Speisen. Warum aber wurden diese Speisen überhaupt in verschiedenen Kunstwerken inszeniert? Wie wurden sie inszeniert? Warum tauchten sie in spezifischen Gattungen auf? Welche Zwecke verfolgten die Darstellungen? Und - nicht zuletzt - inwieweit "deckt die künstlerische Wiedergabe des Essens sich mit der Lebenswirklichkeit [...] der dargestellten Personengruppen" (9)?
Diese Leitfragen werden in folgender Reihenfolge beantwortet. Nach einer allgemeinen Einführung leiten drei weitere Teile tiefer in den Forschungskontext hinein. So behandelt der zweite Teil die Art und Weise, wie diese Kunstwerke zustande kamen und wie sie erstanden und präsentiert wurden. Teil III setzt sich mit der ikonografischen Entwicklung der drei Malereigattungen (Stillleben, Genremalerei und Porträts), in denen Lebensmittel schwerpunktmäßig vertreten waren, auseinander. Teil IV beleuchtet darauf die künstlerische Darstellung von Geflügel, Austern und Zitronen in diesen Gattungen anhand der zeitgenössischen Kunstauffassung.
Teil V ist bei Weitem der größte (er zählt mehr als 200 Seiten) und bildet somit das Herz der Studie. In diesem Abschnitt werden die Darstellungen mit verschiedenen Ebenen der Realität konfrontiert. Welche Realität verbarg sich eigentlich hinter den Darstellungen? Anhand augenscheinlich banaler Fragen wie z.B. "was wurde aufgetischt?", "wie wurde angerichtet?", "wie wurde die Ware verhandelt?" entfaltet sich ein Panorama der Wirkung dieser drei Lebensmittel in der niederländischen Kultur. Unter Einbeziehung einer sehr breiten Skala an historischen Quellen rekonstruiert die Autorin den alltäglichen handgreiflichen Umgang mit Geflügel, Austern und Zitronen. Dazu schöpft sie unter anderem aus Kochbüchern, Reisebeschreibungen, Vorschneidebüchern, diätetischen Traktaten, wissenschaftshistorischen Abhandlungen, Rechnungsbüchern, Inventaren, Gerichtsakten, Emblembüchern und Jagdtraktaten. Über diese Informationsquellen kann der Leser den ganzen kulturellen Aktionsradius von Geflügel, Austern und Zitronen rückverfolgen. Er erfährt alles Mögliche, wie z.B. verschiedene Preisniveaus (Ankauf, Verkauf sowie den Preis in einer städtischen Gaststätte), Züchtungs- und Anbaumethoden, Haltungs- und Fangmethoden, Zubereitungsweisen, Tranchiertechniken, Tischsitten, Brauchtum, Symbolik, diätetische Wirkung und vieles mehr.
Ein Epilog (Teil VI), der nochmals die Fruchtbarkeit des ernährungs(kunst)historischen Ansatzes zur Entschlüsselung frühmoderner Kulturen hervorhebt, und ein Anhang runden das Buch ab. Der Anhang bietet eine Auswahl von übersetzten historischen Rezepten und von historischen Preislisten, ein Quellen- und Literaturverzeichnis und ein nützliches Personenregister. Das Buch enthält Abbildungen der analysierten Kunstwerke, wobei die wichtigsten sechsundzwanzig Gemälde sogar in Farbe abgebildet sind. Das ist besonders nützlich, zumal längst nicht alle Kunstwerke von bekannten Malern stammen.
Im Umgang mit niederländischsprachigen Quellen zeigt sich die Autorin souverän. (Viele wenn nicht die meisten der konsultierten Quellen sind auf Niederländisch verfasst.) Das ist eine beachtliche Leistung, denn das Niederländische des 17. Jahrhunderts ist sogar für Muttersprachler idiomatisch meist kaum wiedererkennbar. Als relativ kleines Sprachgebiet und als Drehpunkt einer intensiven Handelsregion war es vielen Einflüssen ausgesetzt und entwickelte sich deshalb viel heterogener als beispielsweise die deutsche Sprache.
Zu bemängeln gibt es außer Petitessen, dass die Gärten des Markgrafen Francesco II. Gonzaga nicht in Florenz, sondern in Mantua situiert waren (189, Fußnote 1382), aus meiner Sicht wenig. Über die kunsthistorischen Interpretationen und Fragestellungen traue ich mir allerdings auch kein Urteil zu, weil mir dazu einfach die Fachkompetenz fehlt. Die wirtschafts- und mentalitätshistorischen Analysen sind durchaus überzeugend und entsprechen dem neuesten Forschungsstand, sowohl in methodologischer Hinsicht als auch in der konsultierten Primär- und Sekundärliteratur.
Die Auswahl der ernährungshistorischen Forschungsliteratur hätte allerdings vielseitiger und vollständiger ausfallen können: sie beschränkt sich auf die englisch- und deutschsprachige Publikationen und blendet damit wegweisende Beiträge zur vor- und frühmodernen Kulturgeschichte des Essens von Gelehrten wie z.B. Jean-Louis Flandrin, Odile Redon, Massimo Montanari und Allen Grieco aus. Auch die Existenz von den spezialisierten Fachzeitschriften Food and Foodways und Food & History scheint der Autorin entgangen zu sein. Über diese Kanäle hätte sie außerdem erfahren können, dass es mittlerweile die ersten systematischen ernährungskunsthistorischen Forschungsansätze gibt. [1] Eine planmäßige Einbeziehung der bestehenden ernährungshistorischen Literatur hätte diese Studie sicher noch um einige wesentliche Akzente bereichert. Das sollte aber nicht über die beachtenswerte Leistung von Inke Beckmann hinwegtäuschen. Es ist ihr gelungen, anhand einer höchst originellen Vorgehensweise wirklich neue Einblicke in die bereits intensiv erforschte Kunst- und Kulturgeschichte des niederländischen Goldenen Jahrhunderts zu gewinnen.
Anmerkung:
[1] Siehe z.B.: Valérie Boudier: La Cuisine du peintre, Rennes 2010.
Rengenier Rittersma