Rezension über:

Uta Motschmann (Hg.): Handbuch der Berliner Vereine und Gesellschaften 1786-1815, Berlin: de Gruyter 2015, XXVI + 1010 S., ISBN 978-3-05-006015-6, EUR 199,95
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Rezension von:
Peter Mainka
Julius-Maximilians-Universität, Würzburg
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Peter Mainka: Rezension von: Uta Motschmann (Hg.): Handbuch der Berliner Vereine und Gesellschaften 1786-1815, Berlin: de Gruyter 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 2 [15.02.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/02/27578.html


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Uta Motschmann (Hg.): Handbuch der Berliner Vereine und Gesellschaften 1786-1815

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Indem Vereine und Gesellschaften ständische Schranken überwinden oder einebnen halfen, trugen sie beim Übergang von Früher Neuzeit zur Moderne nicht unerheblich zur Transformierung der tradierten geburtsständischen Gesellschaft zur neuen bürgerlichen Gesellschaft bei, die der Sphäre des Staatlichen gegenübertrat und sich auf den privaten Bereich der Bürger bezog. Die ersten Vereine können damit zu Recht als Frühform (zivil-)gesellschaftlicher Selbstorganisation gelten.

Das vorliegende Handbuch unternimmt den Versuch, das gesamte Vereinswesen Berlins vom Tod Friedrichs II. von Preußen bis zur Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongress (1786-1815) zu erfassen. Hervorgegangen ist der Band aus dem Projekt "Berliner Klassik" der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW). Ausgehend von der These, dass Berlin damals "eine wohl einmalige Kulturblüte erlebte" (XI), die von der Kulturgeschichtsschreibung allerdings kaum rezipiert wurde und deshalb deutlich im Schatten der Weimarer Klassik steht, widmet sich der Band speziell der "stadtbürgerliche(n) Geselligkeit, für die das damalige Berlin deutschlandweit bekannt war" (XII). Im Vordergrund stehen dabei Fragen nach dem Zusammenhang von individuellen Ausnahmeerscheinungen, wie es sie in Berlin um die Jahrhundertwende nicht wenige gab, und der "anonymen" Masse des Stadtbürgertums, nach den Eigenheiten dieses Stadtbürgertums und nach der Modernität dieser Großstadtgesellschaft. Und dafür liefert der vorliegende Band die notwendige Informationsgrundlage.

Nach der Einführung mit Informationen zum Konzept des Handbuchs und einem chronologischen Verzeichnis der erwähnten Berliner Vereine (XI-XXVI) werden auf etwas über 1000 Seiten 137 der insgesamt 160 im Zeitraum von 1786-1815 existierenden Berliner Gruppierungen ausführlich dargestellt. Jeder Artikel ist in der Regel nach einem einheitlichen Schema aufgebaut: Hauptname und Namensvarianten des Vereins, Zeitpunkt der Gründung und ggf. der Auflösung, Sitz des Vereins, Vereinsziele, Geschichte und Organisation (Vereinsstruktur), Profil der Mitglieder mit Auflistung der Einzelmitglieder von 1786 bis 1815, Stellung der Gruppierung im Berliner, ggf. deutschen und europäischen Vereinswesen und schließlich bibliografische Hinweise.

Die im Handbuch behandelten Vereine und Gesellschaften sind in 18 Einheiten zusammengefasst, davon eine chronologische (Vereine, die im 18. Jahrhundert gegründet wurden, aber 1786 nicht mehr existierten) und 17 inhaltliche Vereinskategorien (u.a. berufsständische, evangelische Bibel- und Missions-, jüdische, kunstausübende, patriotisch-nationale, gemeinnützige und Wohltätigkeits-, Frauen-, Lazarett- und Bildungs-Vereine sowie Freimaurerlogen, Studentenverbindungen, Tisch- und Lesegesellschaften sowie Geselligkeitsvereine). Abgerundet wird das Handbuch durch Verzeichnisse der Berliner Vereine im Untersuchungszeitraum und in der Zeit danach (1816-1848), der Abkürzungen, Abbildungen und Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen (965-1010).

Unter (institutionalisierten) Vereinen (Gesellschaften, Bünde, Klubs, Zirkel, Kränzchen etc.) versteht die Herausgeberin Uta Motschmann ganz pragmatisch "alle Gruppierungen, in denen sich auf freiwilliger Basis Personengruppen von wechselndem Bestand und meist verschiedener sozialer Herkunft zu einer gemeinsamen, meist durch Gewohnheit oder Satzung festgelegten Zweck zusammengeschlossen haben" (XIII). Nicht berücksichtigt wurden - ungeachtet der fließenden Grenzen - die Berliner Salons, königliche Institutionen der Kunst- und Wissenschaftsakademie, Familienbünde und private Geselligkeiten. In der Regel wurde um 1800 in den preußischen Staaten die Gründung von Vereinen "nicht von der Obrigkeit behindert" (XIII), diese konnten aber ihre obrigkeitliche Autorisierung jederzeit verlieren. Geheimgesellschaften - mit Ausnahme der drei privilegierten preußischen Großlogen - und politische Assoziationen waren generell verboten. Von der Vielzahl und der Varietät der Vereine und Gesellschaften, die es um 1800 in der Haupt- und Residenzstadt Berlin gab, als etwa 175.000 Menschen dort lebten, zeugt das vorliegende Handbuch.

Nach Angaben der Herausgeberin gab es unter den 160 (!) Vereinen 22 Freimaurerlogen, 22 Geselligkeitsvereine oder Ressourcen, 22 Vereine der jüdischen Gemeinde, etwa 20 berufsständische oder fachspezifische Vereine, elf gemeinnützige Wohltätigkeitsvereine und Stiftungen, zehn kunstausübende Vereinigungen, acht evangelische Vereine, sechs Bildungs- und Geselligkeitsvereine, fünf Tischgesellschaften, fünf patriotisch-nationale Vereinigungen, 22 Unterstützungs- und Lazarettvereine, elf Studentenverbindungen und fünf Freundeskreise mit vereinsähnlichen Strukturen, was insgesamt 169 (!) Gruppierungen ergibt - neun mehr als von der Herausgeberin genannt. Etwa 44 Vereinigungen, v.a. Freimaurer-Logen, existierten bereits vor 1786; 116 wurden erst nach 1786 gegründet, davon 34 allein während der antinapoleonischen Kriege. In der Einführung heißt es, dass 137 Vereine im Handbuch beschrieben werden, tatsächlich sind es knapp 160. Diese nicht immer nachvollziehbaren Zahlenangaben sind überaus verwirrend!

Dennoch stellt die vorliegende Handbuch-Dokumentation ein beeindruckendes Beispiel einer staatsunabhängigen, stadtbürgerlichen Vereinslandschaft dar, das die in der Forschung bereits herausgearbeiteten Grundaussagen zum frühneuzeitlichen Vereinswesen unterstreicht, und liefert in der Gesamtschau das erforderliche Datenmaterial, um etwa Fragen nach dem Selbstverständnis des aufkommenden Bildungsbürgertums, nach der zunehmenden Differenzierung der Wissenschaften oder in Bezug auf die Emanzipationsprozesse von Juden oder Frauen zu beantworten. Insofern sich für einzelne Personen gleichzeitige oder im Lauf der Zeit wechselnde Mitgliedschaften in verschiedenen Vereinigungen nachvollziehen lassen, werden gelegentlich, wie die Herausgeberin betont, auch individuelle Lebens- und Selbstentwürfe greifbar, zumal in den letzten Jahren bereits wertvolle biografische Literatur zu Brandenburg-Preußen und seiner Hauptstadt Berlin am Ende der Frühen Neuzeit erschienen ist [1] und im Rahmen des Berliner Klassik-Projekts ein Gesamtmitgliederverzeichnis der behandelten Vereine auf dem edoc-Server der BBAW zur Verfügung gestellt werden soll. Das Netz der biografischen Daten und Informationen zur großstädtischen Gesellschaftskultur der Berliner Klassik ist schon überaus engmaschig geworden.


Anmerkung:

[1] Vgl. etwa Karlheinz Gerlach: Die Freimaurer im Alten Preußen 1738-1806, 2 Bde. (= Quellen und Darstellungen zur europäischen Freimaurerei; Bd. 8), Innsbruck u.a. 2007; oder Rolf Straubel (Hg.): Biographisches Handbuch der preußischen Verwaltungs- und Justizbeamten 1740-1806/15, 2 Teile (= Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin; Bd. 85; Einzelveröffentlichungen des Brandenburgischen Landeshauptarchivs; Bd. VII), München 2009.

Peter Mainka