Katherine Lebow: Unfinished Utopia. Nowa Huta, Stalinism, and Polish Society, 1949-56, Ithaca / London: Cornell University Press 2013, xiv + 233 S., ISBN 978-0-8014-5124-9, USD 45,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Kinga Pozniak: Nowa Huta. Generations of Change in a Model Socialist Town, Pittsburgh, PA: University of Pittsburgh Press 2014
Marcin Starzyński: Das mittelalterliche Krakau. Der Stadtrat im Herrschaftsgefüge der polnischen Metropole. Aus dem Poln. übers. von Christian Prüfer und Kai Witzlack-Makarevich, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2015
Die Industriestadt Nowa Huta - 1949 in der Nachbarschaft von Krakau gegründet - ist ein Sinnbild des Stalinismus in Ostmitteleuropa. Geplant als Heimstätte für die Arbeiter der gigantischen Lenin-Stahlhütte, verkörperte sie das Ziel von Polens kommunistischen Machthabern, eine neue Gesellschaftsordnung zu schaffen. Durch die Arbeit in den Stahlwerken und das Leben in der nach ideologischen Gesichtspunkten geplanten Stadt sollten Nowa Hutas Bewohner zu neuen Menschen geformt werden. Anne Applebaum hat Nowa Huta, neben Stalinstadt in der DDR und Sztálinváros in Ungarn, als umfassendsten Versuch ostmitteleuropäischer Kommunisten bezeichnet, eine "echte totalitäre Zivilisation" zu schaffen. [1]
In ihrer Kultur-, Alltags- und Sozialgeschichte Nowa Hutas zeichnet Katherine Lebow ein etwas anderes Bild von Polens sozialistischer Musterstadt. Dabei unterschlägt sie nicht, dass Repression und Ideologie für den Alltag der polnischen Gesellschaft jener Zeit wichtig waren. Im Anschluss unter anderem an Jochen Hellbeck möchte sie jedoch die gelebte Alltagsideologie der Bewohner Nowa Hutas studieren. Während Hellbeck in seinen Studien des sowjetischen Stalinismus der 1930er-Jahre Ideologie jedoch als allumfassend und hegemonial versteht, zeigt Lebow auf, dass die Aneignung ideologischer Inhalte soziale Dynamiken in Gang setzte, die die Herrschenden nicht kontrollieren konnten. [2] Und es waren nach ihrer Auffassung die dadurch entstandenen Arbeitertradition und Ideale, die Nowa Huta - neben anderen Faktoren - zu einer Hochburg der Solidarność in den 1980er-Jahren machte.
Lebow entwickelt diese These in insgesamt sechs Kapiteln. Das erste ist der Planung Nowa Hutas gewidmet. Hier zeigt sie einerseits auf, dass Nowa Huta auf Plänen, Vorstellungen und Motivationen beruhte, die aus vor- und nichtkommunistischen Traditionsbeständen kamen, zum Beispiel auf dem Wunsch, Polen zu modernisieren, oder auf städteplanerischen Konzepten der Vorkriegszeit beruhten. Andererseits arbeitet die Verfasserin heraus, dass auch der sozialistische Realismus keine Blaupause für die Konstruktion Nowa Hutas bereitstellte. Die Entwicklung Nowa Hutas war daher ebenso von Improvisation und Planlosigkeit geprägt wie von einem klar formulierten ideologischen Projekt.
In den folgenden vier Kapiteln widmet sich Lebow der Alltags- und Sozialgeschichte Nowa Hutas während des Stalinismus. Das erste ist der Herkunft der Einwohner gewidmet. Als sie in die im Aufbau befindliche Stadt kamen, hatten sie überwiegend eine von harschen Lebensbedingungen und starren Hierarchien geprägte dörfliche Lebenswelt hinter sich gelassen. Sie brachten daher den Wunsch mit, an der Entstehung einer modernen, urbanen Welt teilzuhaben (Kapitel 2). Als dieser Wunsch jedoch mit den Realitäten vor Ort und den Vorgaben der lokalen Parteiführung kollidierte, entstand eine soziale Wirklichkeit, die, so Lebow, oft chaotisch oder gar anarchisch war. Versuche, die Arbeiter durch Agitation und Mobilisierung in neue Menschen zu verwandeln, schufen unter ihnen vielmehr Vorstellungen einer "moralischen Gemeinschaft" (10) der Arbeiter, aus der Partei und Betriebsführung ausgeschlossen wurden (Kapitel 3). Auch blieb Nowa Huta hinter den egalitären Zielen des Sozialismus zurück, wie Lebow in Kapitel 4 zeigt, in dem sie Nowa Hutas Bewohner einer differenzierten Analyse unterwirft. Einerseits schildert sie hier die Situation von Arbeiterinnen, andererseits die Lage von Roma in der Musterstadt. Diesen sozialgeschichtlichen Teil des Buchs beschließt Kapitel 5. Hier zeigt Lebow, dass die kulturellen Erziehungsprogramme der Planer von Nowa Huta an einer Mischung aus fehlenden Ressourcen und der Renitenz der jugendlichen Bewohner scheiterten. In Polen entstand daher eine Art "moralischer Panik", die weitverbreitete Ansicht über angeblich in Nowa Huta grassierende Prostitution und Kindsmord.
Kapitel 6 spannt einen Bogen vom Ende des Stalinismus bis 1989. Hier vertritt die Autorin ihre These, dass die Stärke der Solidarność, der 90 Prozent der Beschäftigen in der Lenin-Hütte angehörten, nur vor dem Hintergrund des Stalinismus verständlich sei. Neben religiösen Traditionen bedeutete eine durch den Sozialismus geschaffene Arbeiteridentität eine wichtige Grundlage für Dissens und Widerstand.
Lebows Buch ist ohne Zweifel ein innovativer Beitrag zur Kultur- und Sozialgeschichte staatssozialistischer Systeme. Besonders überzeugen kann ihr Ansatz, die Bedeutung von Ideologie nicht zu ignorieren, sondern auf die nicht-intendierten Konsequenzen zu schauen, die aus der Aneignung ideologischer Inhalte im Alltagsleben folgen. Auch das Bild einer Stadt, die oft mehr von Chaos und Spontanität als von einer ideologischen Blaupause geprägt war, kann überzeugen, auch aufgrund der breiten Quellenbasis der Arbeit. Einzig die recht unkritische Verwendung von Ego-Dokumenten, die überwiegend aus Memoirenwettbewerben stammen, führt bisweilen zu einer überzeichneten Darstellung eines von Idealismus geprägten Lebens in der Anfangsphase von Nowa Huta.
Bedauerlich ist, dass nur ein Kapitel der Geschichte Nowa Hutas nach 1956 gewidmet ist. So überzeugend es ist, die Stärke der Solidarność auch aus sozialistischen Traditionen erklären zu wollen, werden doch zu viele kausale Zusammenhänge zwischen Arbeitertraditionen und Solidarność nur angedeutet. Trotzdem ist Lebows Buch eine sehr gelungene Studie, der eine breite Leserschaft und Rezeption in der zeithistorischen Ostmitteleuropaforschung, aber auch in der Forschung zur Geschichte des Kalten Kriegs sowie zur Geschichte der Umsetzung moderner Ordnungsvorstellungen im 20. Jahrhundert insgesamt zu wünschen ist.
Anmerkungen:
[1] Anne Applebaum: Der eiserne Vorhang. Die Unterdrückung Osteuropas 1944-1956, München 2013, 417.
[2] Jochen Hellbeck: Revolution on My Mind. Writing a Diary under Stalin, Cambridge 2006; ders. (Hg.): Tagebuch aus Moskau, München 1996.
Robert Brier