Rezension über:

Christoph Günther: Ein zweiter Staat im Zweistromland? Genese und Ideologie des "Islamischen Staates Irak" (= Kultur, Recht und Politik in Muslimischen Gesellschaften; Bd. 28), Würzburg: Ergon 2014, 354 S., 2 s/w-Abb., 1 Kt., 1 CD-Rom, ISBN 978-3-95650-036-7, EUR 58,00
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Rezension von:
Carsten Polanz
Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Conermann
Empfohlene Zitierweise:
Carsten Polanz: Rezension von: Christoph Günther: Ein zweiter Staat im Zweistromland? Genese und Ideologie des "Islamischen Staates Irak", Würzburg: Ergon 2014, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 3 [15.03.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/03/25617.html


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Forum:
Diese Rezension ist Teil des Forums "Islamische Welten" in Ausgabe 16 (2016), Nr. 3

Christoph Günther: Ein zweiter Staat im Zweistromland?

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Seit ihrer spektakulären Eroberung Mossuls im Juni 2014 sind auch in Deutschland zahlreiche Bücher zur Entstehung und Vorgehensweise der Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) erschienen. Viele von ihnen stellen mehr oder weniger kurzfristige Reaktionen auf die aktuellen Debatten rund um die terroristische Bedrohung dar, die von dieser ǧihādistischen Gruppierung in zunehmendem Maße auch für Europa ausgeht. Das gilt nicht für das vorliegende Buch, bei dem es sich um eine leicht bearbeitete Version der Ende 2013 von Christoph Günther an der Fakultät für Geschichte, Kunst und Orientwissenschaften der Universität Leipzig vorgelegten Dissertationsschrift handelt. Der Verfasser hat sich bereits seit vielen Jahren mit der Genese und Ideologie der irakischen Vorläufergruppierungen des IS beschäftigt und seine Arbeit abgeschlossen, als die breite Öffentlichkeit im Westen noch keine Notiz von der Existenz, dem Anspruch und dem Potenzial dieser Gruppierung nahm.

Direkt in seiner Einleitung macht Günther deutlich, dass er sich nicht auf den Gewalt- und Terroraspekt beschränken, sondern die Attraktivität ergründen will, die ǧihādistische Gruppierungen bis heute in der arabisch-islamischen Welt und darüber hinaus quer durch alle Gesellschaftsschichten und Altersgruppen besitzen. Dabei versucht er nachzuvollziehen, auf welche Weise sich ǧihādistische Akteure - verstärkt und konkreter seit der Proklamation des "Islamischen Staates Irak" (ISI) im Jahr 2006 - "als ernsthafte Alternative zu einem Leben im Rahmen existenter, säkularer Gesellschaftsmodelle präsentieren" und das staatliche Gewaltmonopol auf einem bestimmten Territorium herausfordern (13, 20, 22).

Im ersten von drei Teilen seines Buches beschreibt Günther mit Rückgriff auf die diesbezüglich relativ umfangreiche Forschungsliteratur die gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen vor dem Beginn des Dritten Golfkriegs. Mit den Verlusten im Krieg gegen den Iran sowie im Zweiten Golfkrieg und den Folgen der Wirtschaftssanktionen wuchs die Armut und Unzufriedenheit der Bevölkerung. Ṣaddām Ḥusain vollzog einen Strategiewechsel. Statt wie zuvor ethnische und konfessionelle Identitätsmarker zurückzudrängen und die irakische Identität maßgeblich durch die Baath-Ideologie zu definieren, erhielten Stammesverbände und (politisch-)islamische Gruppierungen regional mehr Verantwortung. Mit der Aufwertung religiöser und tribaler Werte bildeten sich jedoch zwangsläufig auch unterschiedliche oppositionelle Gruppierungen heraus, die vor allem ethnisch und konfessionell geprägt waren und teilweise vom Ausland unterstützt wurden und sich lediglich in der angestrebten Ablösung Ṣaddām Ḥusains, aber keineswegs in der Ausrichtung des zukünftigen irakischen Staates einig waren (36ff., 296).

Der zweite Teil des Buches bezieht sich auf die Zeit von 2003 bis 2006, vom Einmarsch der Koalitionstruppen bis zum Tod des Jordaniers Abū Muṣʿāb az-Zarqāwī, des Anführers der ISI-Vorläuferorganisationen "at-Tauḥīd wa-l-Ǧihād" und "al-Qāʿida fi-bilād ar-rāfidayn". Günther benennt hier einige der wichtigsten Gründe für das Erstarken des ǧihādistischen Widerstands unter seiner Führung: die zunehmende Spaltung der Gesellschaft durch die "Verteilung politischer Macht anhand eines ethnisch-konfessionellen Proporzes" (72); damit verbunden die Dominanz oppositioneller aus dem Ausland - vor allem dem Iran - unterstützter Kräfte in der von der US-geführten Zivilverwaltung gebildeten Übergangsregierung; der Unwille der neuen Machthaber, einen national tragfähigen Konsens jenseits rein konfessioneller Motive zu finden, und ihre Unfähigkeit in vielen Regionen, Sicherheit und Ordnung sowie den Zugang zu sauberem Wasser und notwendigen Lebensmitteln zu garantieren (77f.). Indem die Zivilverwaltung darüber hinaus die Armee mit ihrem sunnitisch dominierten Offizierskorps und die Baath-Partei auflöste und die Staatsbetriebe privatisierte, trieb sie viele enttäuschte und verbitterte Sunniten auf die Straße und manche von ihnen in den Widerstand gegen diese von den Ǧihādisten als "amerikanisch-schiitische Verschwörung" dargestellte Politik der De-Baathifizierung und De-Sunnifizierung (87, 297).

Im diesem zweiten und im dritten Teil, der die Zeit nach der Tötung Zarqāwīs im Jahr 2006 und der Ausrufung des "Islamischen Staates Irak" bis zum Abzug der US-Kampftruppen 2010 behandelt, ist ein besonderer Fokus und eine Stärke des Werkes die ausführliche Analyse der Kommunikationsstrategie. Aufgrund ihres fehlenden Zugangs zu den Massenmedien versuchen die ǧihādistischen Gruppierungen demnach als "Gegenöffentlichkeit", mithilfe eigener Medienproduktions- und -distributionsgesellschaften sowohl ihre eigenen Positionen nach innen zu stabilisieren als auch nach außen in attraktiver und überzeugender Weise zu vermitteln und ideologisch zu immunisieren (111f., 240). Grundlage dieser Analyse ist ein zuvor bereits vom Verfasser nach zeitlichen und inhaltlichen Kriterien ausgewählter Materialkorpus von ca. 1000 Seiten Text, 27 Stunden Audiobotschaften und 12,5 Stunden Videomaterial (28). Der Leser kann sich mithilfe der dem Buch beigefügten CD selbst ein Bild von den ǧihādistischen Medienerzeugnissen machen.

Bei der Auswertung seines Materials bedient sich Günther verschiedener kommunikations- und medienwissenschaftlicher Theoreme. So wird beispielsweise deutlich, wie Fotografien misshandelter Gefangener in Abu Ghrayb oder Bilder zerstörter Dörfer, weinender Frauen und toter Kinder den Eindruck "authentischer Augenzeugenschaft" vermitteln und das Gefühl der Bedrohung durch die vom ISI definierten und meist reduktionistisch und archetypisch dargestellten inneren und äußeren "Feinde des Islam" und ihrer "Agenten" verstärken sollen (122f., 247). Günther arbeitet in seiner Analyse der ISI-Propaganda auch die ständige "Rückkoppelung des eigenen Wirkens an die frühislamische Zeit" (230) mithilfe ausgeprägter Symbolik und emotional aufgeladener Semantiken heraus. So verknüpfen professionell bearbeitete Videos unter anderem Szenen frühislamischer Eroberungsfeldzüge mit der Fahne und dem Banner des ISI sowie dem Widerstandsgeist und der bis zum Selbstmordattentat reichenden Opferbereitschaft seiner Kämpfer. Damit wird die Botschaft transportiert, dass damals wie heute, dort wie hier, der Kampf gegen den Feind mit derselben Bereitschaft und für dasselbe Ziel geführt wird (245).

Wie Günther mit Blick auf az-Zarqāwīs Rede vom "Stift und Schwert"-Ǧihād überzeugend darzulegen weiß, unterstreichen und ergänzen grausame und daher Aufsehen erregende Anschläge und Exekutionen als "Propaganda der Tat" konkret, sicht- und fühlbar die textlichen Botschaften der Gruppierung (125) - gerade auch dadurch, dass sie die chaotischen Zustände weiter verstärken und damit die Unfähigkeit des neuen Staates zur Garantie von Sicherheit und Ordnung für die Zivilbevölkerung eindrucksvoll dokumentieren (148). Günther macht in diesem Zusammenhang auch auf das Dilemma aufmerksam, dass Massenmedien solche Terrorakte einerseits nicht ignorieren können, andererseits schon durch die schiere Berichterstattung ungewollt und unabhängig von der Tendenz ihrer Berichterstattung zum "Transporteur ǧihādistischer Sichtweise" (114) werden können - je heftiger und ungewöhnlicher die Gewaltaktion ist, desto häufiger und länger in der Regel die mediale Aufbereitung (125).

Der Verfasser liefert mit seiner Untersuchung überzeugende Argumente dafür, dass der heute auch große Teile Syriens beherrschende "Islamische Staat" nicht allein durch politische und militärische Maßnahmen zu besiegen ist. Die ideologische Dimension der Herausforderung besteht darin, dass sich der ISI nicht nur als militärisch erfolgreich, sondern auch als kulturell anschluss- und anpassungsfähig sowie als attraktiv für junge Iraker und Muslime aus anderen arabischen Staaten erwiesen hat (302). Das ǧihādistische Paradigma von der Unterdrückung des Islam und der Notwendigkeit eines "Ǧihāds der Verteidigung" (ǧihād ad-daʿf) sowie das Beharren auf einer notfalls auch gewaltsamen Aufrichtung und Ausbreitung der als wahrhaft gerecht verstandenen schariakonformen Gesellschaftsordnung nach den koranischen Vorgaben und dem prophetischen Vorbild stoßen demnach auf große Resonanz in weiten Bevölkerungsteilen der arabischen Welt (60f., 129, 230). Wie Günther treffend bemerkt, kann die Gruppierung dabei relativ problemlos auf - vor allem antiamerikanischen bzw. antiwestlichen - Narrativen und Bildern aufbauen, die auch von arabischen Satellitensendern wie al-Jazeera seit vielen Jahren bedient und verbreitet werden (113).

Weiterführende Fragestellungen, die sich aus Günthers sorgfältig recherchierter Analyse auch mit Blick auf Radikalisierung junger Muslime in Europa ergeben, betreffen unter anderem die Rolle der sogenannten Mainstream-Gelehrten. Günther erwähnt zwar kurz die Verurteilung brutaler (vor allem innerislamischer) Gewaltanwendung durch einflussreiche Islamisten wie Yūsuf al-Qaraḍāwī und Fahmī Huwaydī und deren Versuche, den Ǧihādisten das Deutungshoheit über die islamische Identität abzusprechen (114f.). Dabei bleibt jedoch die Frage offen, inwiefern dieselben Gelehrten mit ihrer ebenfalls von Bedrohungsszenarien und Verschwörungs-Narrativen durchsetzten Ideologie und Rhetorik selbst zur Verschärfung gesellschaftlicher, interreligiöser und konfessionalistischer Spannungen und zur grundsätzlichen Anschlussfähigkeit ǧihādistischer Propaganda beitragen. Allzu oft erscheint ihr Nein zur Gewalt als Mittel der weltanschaulichen und politischen Auseinandersetzung sowie ihre Verwendung ambivalenter zentraler Termini wie jener der Verteidigung islamischer Werte und Ehre so vieldeutig, dass die Übergänge zur ǧihādistschen Weltdeutung und Handlungsanweisung fließend bleiben.

Carsten Polanz