Rezension über:

Catherine Jolivette (ed.): British Art in the Nuclear Age (= British Art: Histories and Interpretations since 1700), Aldershot: Ashgate 2014, XVII + 275 S., 16 Farb-, 51 s/w-Abb., ISBN 978-1-4724-1276-8, GBP 70,00
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Rezension von:
Martin Diebel
Augsburg
Redaktionelle Betreuung:
Jessica Petraccaro-Goertsches
Empfohlene Zitierweise:
Martin Diebel: Rezension von: Catherine Jolivette (ed.): British Art in the Nuclear Age, Aldershot: Ashgate 2014, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 3 [15.03.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/03/26882.html


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Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Catherine Jolivette (ed.): British Art in the Nuclear Age

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Dem Unfassbaren eine Gestalt geben, das Unsichtbare sichtbar machen - das ist die Aufgabe der Kunst. Sie vermag es, dem mit menschlichen Sinnen nicht unmittelbar zu Greifenden ein Gesicht, einen Ausdruck zu verleihen (14). Mit Entdeckung der - nicht sichtbaren -Radioaktivität Ende des 19. Jahrhunderts verbanden sich mit dem "Nuklearen" Zukunftsutopien und Endzeitvorstellungen. 1945 allerdings, so scheint es, verschoben sich die Koordinaten endgültig in Richtung nuklearer Dystopien; so erblickt Paul Boyer in der Zündung der ersten Atombombe eine geistesgeschichtliche Zäsur. [1] Doch die Jahre nach 1945 waren geprägt von Kontinuität, Ambivalenzen und dem langen Schatten des Zweiten Weltkrieges. Die zentrale Frage des Sammelbandes lautet daher: Welche Hoffnungen, welche Ängste verbanden sich mit dem Beginn des nuklearen Zeitalters, dessen Ursprünge weit vor Hiroshima lagen? Ausgehend von der These, dass das Visuelle eine bestimmte Kultur nicht bloß reflektiert, sondern gesellschaftliche Diskurse auch zu formen vermag, untersucht das Buch erstmals für Großbritannien die künstlerischen Antworten auf die Herausforderungen atomarer Technologie (3). Damit ist es Teil einer kunsthistorischen Forschung, die seit einigen Jahren den geistesgeschichtlichen und kulturellen Grundlagen der Nachkriegszeit nachspürt [2]; eine hinreichende Antwort auf die Frage, weshalb die britische Kunst des "Nuclear Age" lange weitgehend unterbeleuchtet war [3], bleibt allerdings auch der vorliegende Band schuldig.

Im Fokus des Autorenkollektivs um Herausgeberin Catherine Jolivette stehen britische Künstlerinnen und Künstler, die sich in verschiedensten Feldern, sei es die Bildhauerei (Robert Burstow), Malerei (Fiona Gaskin, Catherine Spencer), oder die Fotografie (Christoph Laucht) der nuklearen Herausforderung widmeten. Der untersuchte Zeitraum von den 1940er- bis zu den 1960er-Jahren korrespondiert zwar mit der Periode des beginnenden Kalten Krieges, vom Korea-Krieg, über die Entwicklung der Wasserstoffbombe und der sich konstituierenden anti-nuklearen Friedensbewegung bis hin zur Kuba-Krise. Jedoch bildete der Kalte Krieg keineswegs den alles umfassenden Rahmen (1). Der politisch-militärische Aspekt der atomaren Abschreckung bildete zwar einen prägenden diskursiven Rahmen, aber nicht den einzigen.

Insbesondere die frühen 1950er-Jahre zeichnen sich aus durch eine ambivalente Haltung gegenüber der nuklearen Technologie. Während die ersten Nachkriegsjahre von den Schrecken des Zweiten Weltkrieges geprägt waren, schienen Künstler wie Isabel Rawsthorne mit ihren skelettartigen Tierbildern die kommende Bedrohung zu erahnen (Carol Jacobi). Allerdings strahlte die Nukleartechnologie zu Beginn der 1950er-Jahre eine Faszination aus, derer sich auch die britische Kunst nicht entziehen konnte. Im 1951 abgehaltenen "Festival of Britain" trugen zahlreiche namhafte Künstler dazu bei, den Diskurs über die Nukleartechnologie zu formen (Jolivette). Mit den landesweiten wissenschaftlichen Ausstellungen richtete sich das von der Regierung initiierte Festival an die breite Bevölkerung. Das Atom als "Wunderland", die Faszination der Wissenschaft verbunden mit dem nationalen Stolz auf die Leistungen britischer Physiker, all das prägte das Ausstellungsdesign. Erst die Entwicklung der Wasserstoffbombe und deren potentiell unendliche Zerstörungskraft erschütterten dieses fortschrittsorientierte Selbstbild nachhaltig. Der nukleare Optimismus der frühen 1950er-Jahre wich der Angst vor der atomaren Vernichtung. Dieser Beobachtung nachgehend, bedienten sich die Autoren nicht allein kunsthistorischer Zugänge. So finden soziologische sowie psychologische Ansätze Eingang in die Untersuchungen.

Am Beispiel des Malers John Bratby zeigt Gregory Salter, welch enorme Belastung die zunehmende Unsicherheit für das eigene Selbst und die Familie bedeuten konnte. Mitte der 1950er-Jahre legte die britische Regierung den Bevölkerungsschutz in die Hände eines jeden einzelnen. Die eigene Familie wurde zum Bollwerk gegen die atomare Bedrohung erklärt. Bratby widmete sich in seinen Werken vor allem dem eigenen Zuhause. Dieses bot zwar Schutz vor der äußeren Gefahr, war aber gleichzeitig im Inneren bedroht durch innerfamiliäre sowie individuelle Spannungen. Inwieweit die - durchaus schlüssig formulierte - psychoanalytische, auf der Arbeit Melanie Kleins basierende Ausdeutung von Bratbys Schaffen empirisch stichhaltig ist, bleibt allerdings offen.

Schließlich widmen sich die Autoren dem Beziehungsgeflecht Wissenschaftler - Künstler - Öffentlichkeit (Kate Aspinall und Robert Burstow). Nicht allein der politisch-militärische Bereich, sondern alle Aspekte des alltäglichen Lebens waren von "nuklearen" Fragen betroffen. Der Künstler war Wissensvermittler, der das scheinbar Unbegreifliche der Atomphysik oder Kristallografie auf ästhetische Weise verständlich macht. Ein ansprechendes Beispiel hierfür ist die von Jacob Bronowski entwickelte TV-Serie "The Ascent of Man", in der er sich in einer Episode explizit dem Umgang mit wissenschaftlicher Autorität im nuklearen Zeitalter widmet.

Wissenschaft, Abschreckungspolitik, Atombombenexplosion - all diese Aspekte fanden Eingang in das Wirken britischer Künstler. Auffällig jedoch ist das Fehlen der Opfer. In seinen Ausführungen zu den britischen Malern John Tunnard und Leslie Hurry macht Simon Martin die Beobachtung, dass es der Kunst an angemessenen Ausdrucksformen fehlte, die Leidtragenden des atomaren Zeitalters darzustellen. Allzu selten stünden die Opfer im Fokus der Kunst. Bilder wie das an Pablo Picassos "Guernica" angelehnte "Atom Bomb" (1945) von Leslie Hurry oder das friedensbewegte Engagement Henry Moores blieben die Ausnahme. Mit Beginn der 1960er-Jahre verbanden auch britische Künstler mit ihrem Bezug auf die Atombombe kaum mehr politische Statements, die Atombombe entwickelte sich zum Pop-Phänomen. Martins Blick auf die britische Malerei zwischen 1945 und 1970 gibt einen guten abschließenden Überblick über die ästhetische Bewältigung der atomaren Bedrohung - und kompensiert das Fehlen eines alle Aufsätze zusammenführenden Fazits.

Insgesamt besticht der Sammelband durch seine inhaltliche sowie methodologische Vielfalt. Eine wichtige Antwort bleibt der Sammelband schuldig. Die eingangs gemachte These, wonach das Visuelle Diskurse zu formen vermag, findet kaum Aufnahme in den Aufsätzen. Die Ausführungen verbleiben zumeist im Bereich des Kunstdiskurses und gehen selten über diesen hinaus. Politik und Gesellschaft bilden die Rahmenbedingungen für die künstlerische Aktivität. Mit Ausnahme der Wissenschaft bleiben künstlerisch-gesellschaftliche Wechselwirkungen unsichtbar.

Dennoch: Es bleibt dem anregenden Sammelband zu wünschen, dass er künftige Historikerinnen und Historiker inspiriert, der spannungsreichen Geschichte britischer Kunst im "nuklearen Zeitalter" weiter nachzuspüren. Die Phase des "Zweiten Kalten Krieges" [4] in Großbritannien harrt noch ihrer ästhetisch-historischen Erforschung. Ebenso wie in der Kunst gilt es, das bisher Unsichtbare sichtbar zu machen.


Anmerkungen:

[1] Paul Boyer: By the Bomb's Early Light. American Thought and Culture at the Dawn of the Atomic Age, New York 1994, xviii; zur geistesgeschichtlichen Bedeutung der Atombombe vgl. auch Ilona Stölken-Fitschen: Atombombe und Geistesgeschichte. Eine Studie der fünfziger Jahre aus deutscher Sicht, Baden-Baden 1995.

[2] Vgl. für die Sowjetunion: Christine Lindey: Art in the Cold War. From Vladivostok to Kalamazoo, 1945-1962, London 1990; für die USA: Brooke Kamin Rapaport / Kevin Stayton (eds.): Vital Forms. American Art and Design in the Atomic Age, 1940-1960, New York 2001; und Greg Barnhisel: Cold War modernists. Art, literature, and American cultural diplomacy, New York 2015; für Deutschland: Stephanie Barron u.a. (eds.): Art of two Germanys. Cold War cultures, New York u.a. 2009.

[3] Neben einigen aufschlussreichen Aufsätzen, existieren bis dato keine umfassenden Studien zu diesem Thema. Vgl. bspw. Barry Curtis: War Games. Cold War Britain in Film and Fiction, in: Cold War Modern: Design, 1945-1970, ed. by David Crowley, London 2008, 122-128.

[4] Zum Begriff des "Zweiten Kalten Krieges" vgl. Philipp Gassert (Hg.): Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung. Der NATO-Doppelbeschluss in deutsch-deutscher und internationaler Perspektive, München 2011.

Martin Diebel