Rezension über:

Benjamin Scheller: Die Stadt der Neuchristen. Konvertierte Juden und ihre Nachkommen im Trani des Spätmittelalters zwischen Inklusion und Exklusion (= Europa im Mittelalter; Bd. 22), Berlin: Akademie Verlag 2013, 509 S., ISBN 978-3-05-005977-8, EUR 99,80
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Hans-Martin Kirn
Protestant Theological University, Amsterdam-Groningen
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Hans-Martin Kirn: Rezension von: Benjamin Scheller: Die Stadt der Neuchristen. Konvertierte Juden und ihre Nachkommen im Trani des Spätmittelalters zwischen Inklusion und Exklusion, Berlin: Akademie Verlag 2013, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 3 [15.03.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/03/27205.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Benjamin Scheller: Die Stadt der Neuchristen

Textgröße: A A A

Die vorliegende Untersuchung, eine bearbeitete Fassung der Habilitationsschrift (Humboldt-Universität Berlin, 2009) des seit 2011 in Duisburg-Essen lehrenden Autors, stellt einen gründlich gearbeiteten, ausgesprochen lesenswerten Beitrag zur näheren Erforschung der Konversions- und Integrationsproblematik im Rahmen der Geschichte des jüdisch-christlichen Verhältnisses im spätmittelalterlichen Süditalien dar.

Gegenstand des ersten Abschnitts sind die Massenkonversion von Juden zum christlichen Glauben im Königreich Neapel um 1292 und ihre Verortung in Prozessen der Herrschaftszentralisierung, zu deren Analyse der Autor bereits anderweitig beitrug, und der folgende Streit zwischen Königtum und Kirche bzw. Inquisition um die Zugehörigkeit der Neuchristen (Neofiti) bis um die Mitte des 14. Jahrhunderts. Strittig waren dabei vor allem die Beiträge der Konvertiten zur allgemeinen Kopfsteuer, der subventio generalis, und die Befugnisse der Inquisition über die Konvertiten.

Von besonderem Interesse sind die Folgeabschnitte, die sich der bislang noch am wenigsten erforschten Geschichte der Konvertiten und ihrer Nachkommen bis um 1500 widmen. Der zweite Abschnitt geht auf die zunehmende Bedeutung der lokalen bzw. regionalen Kräfte für die politische Integration der Neuchristen ein. Dabei wird gezeigt, wie es der Stadtgemeinde von Trani in Auseinandersetzung mit dem Königtum, der (erzbischöflichen) Kirche und den Inquisitoren bis zum Ende des 14. Jahrhunderts gelang, eine weitgehende politisch-fiskalische Inklusion der Konvertiten in die christliche Mehrheitsgesellschaft zu erreichen, d.h. diese dem Machtbereich der Kirche zu entziehen und ihnen aktiven Anteil am politischen Bürgertum der Stadt zu verschaffen. Aus den homines ecclesiae wurde über Zwischenschritte - so die Stadtverfassung von 1413, welche die Neofiti als Sondergemeinde an der Seite des Populus im Gegenüber zum Adel konstituierte - ein neuer Stand der mehrheitlich aus Neuchristen gebildeten, vielfach adligen Kaufleute mit entsprechendem Gewicht in den Führungsgremien der Stadt. Damit endete faktisch die politische "Jewishness" der Konvertiten und ihre Identifizierung als Neofiti.

Der ausführlich und detailreich angelegte dritte Abschnitt widmet sich der wichtigen Frage der Stellung der Neuchristen in der Stadtgesellschaft, also ihren Netzwerken, Handelsaktivitäten, Karrieren und ihrer Inklusion in den urbanen Raum. Das netzwerkanalytisch sorgfältig ausgewertete personengeschichtliche Material macht deutlich, dass die Neuchristen sich fast nur unter ihresgleichen zu Handelsgesellschaften zusammenschlossen und heirateten, der inquisitorische Vorwurf der Endogamie also wohl nicht aus der Luft gegriffen war. Eine Konzentration auf die eigene Gruppe zeigen auch die Netzwerke der Zeugenbeziehungen untereinander, wie sie sich anhand notarieller Urkunden erheben lassen. Plausibel wird dargelegt, wie die Zunahme der politischen Bedeutung der Neuchristen seit 1464 mit neuen Karrierechancen in Handel und Verwaltung des Königreichs, aber auch mit einer verstärkten sozialen Schließung der Gruppe in der Stadt einherging, verbunden mit dem Entstehen jenes adelsähnlichen neuen Standes der Kaufleute, der zum "alten Adel" in Konkurrenz trat.

Der vierte Abschnitt analysiert den Umschwung, die Vertreibung der Neuchristen aus Trani 1495 und die Vertreibungsversuche von 1510 und 1514 aus dem Königreich, das 1503 unter spanische Herrschaft gefallen war. Verfolgung und Vertreibung richteten sich immer wieder gegen Juden und Neuchristen gleichermaßen. Dies gilt auch für das Vertreibungsedikt von 1510, während sich das von 1514 allein auf die Neuchristen bezog. Zu Recht wird festgestellt, dass die Vertreibungspolitik auf die Neuchristen weniger bedrohlich wirken musste als die ursprünglich geplante, aber letztlich gescheiterte Einführung der spanischen Inquisition im Königreich, die wenig Nachsicht mit Juden wie Neuchristen erwarten ließ. Aufschlussreich sind hier wie an anderen Stellen die Strategien der Neuchristen, sich als "wahre" Christen zu beweisen und ihrer Exklusion zu entgehen, etwa durch Verweise auf die Verheiratung mit Christen "von Natur".

Im fünften Abschnitt wird die sprachlich-kulturelle Produktion von "Jewishness" und deren Verhältnis zur sozialen Praxis von Inklusion und Exklusion näher beleuchtet. Dabei zeigt sich, dass, spezifisch für den apulischen Sprachgebrauch, bald nicht nur die Konvertiten Tranis, sondern in erweiterter Form auch deren Nachkommen bis 1495 als "Neuchristen" (Christiani Novi, Neofiti) bezeichnet wurden. Hier knüpften zwar häretisierende und damit exkludierende Bestrebungen der Inquisition an, doch markierte die Begrifflichkeit eine graduelle und gerade keine fundamentale Differenz gegenüber den "anderen Christen", so dass von einer "inkludierenden Exklusion" gesprochen werden kann. Deutlich wurde dies im politisch-sozialen Raum durch die prinzipielle Gleichstellung der Neuchristen mit den christlichen Bürgern der Stadt. Diese Gleichstellung geriet zunehmend unter Druck. Ab 1495 setzte sich unter dem Einfluss der spanischen Redeweise von den "Marranen" und der Biologisierung der Abstammungsfrage eine die Häretisierung noch verschärfende Semantik rigider Exklusion durch, welche die Neuchristen nur noch außerhalb der christlichen Gesellschaft verorten konnte. Dies führt zur spannenden Frage nach der religiösen "Jewishness" der Neuchristen, also nach dem Ausmaß ihres Festhaltens an jüdischen Sitten und Gebräuchen bis hin zum Kryptojudentum, wie es den Neuchristen von inquisitorischer Seite immer wieder vorgeworfen wurde. Leider bringen, so ergibt sich aus der sorgfältig abwägenden Analyse, die hier verhandelten Quellen keine wirklichen Fortschritte. Die Frage hybrider Religiosität bleibt daher, von einigen bekannten Eckpunkten abgesehen, offen.

Der sechste Abschnitt bietet einen Epilog in drei Episoden zur "Wiederkehr des Verdrängten". Zum Eingang wird eine auffällig konstruierte, erstmals 1611 in einer Sammlung wundersamer Begebenheiten mitgeteilte Traneser Hostienschändungserzählung vorgestellt, in welcher offenbar noch die Erinnerung an die Neuchristen von Trani und deren Vertreibung präsent war. Ein Vergleich mit der zweiten Version der Geschichte aus dem Jahr 1706 zeigt, will man der Analyse folgen, wie die Spuren dieser Erinnerung getilgt wurden. Die letzte Episode gibt einen persönlich gehaltenen Reiseeindruck von der Wiedergeburt der jüdischen Gemeinde von Trani und der Rückführung der nach 1292 in eine Kirche verwandelten Synagoge zu ihrer ursprünglichen Bestimmung, freilich ohne jede Erinnerung an deren bewegte Geschichte.

Dem Band sind umfangreiche Anhänge zur Prosopographie der Neuchristen in Trani und Quellentranskriptionen beigegeben. Die üblichen Verzeichnisse sowie ein Personen- und Ortsregister beschließen den Band. Ein Sachregister wäre hilfreich gewesen.

Die klare Konzeptualisierung von Inklusion und Exklusion und der methodisch überzeugende Umgang mit den zur Verfügung stehenden Quellen (vor allem rechtlicher Art) geben der Arbeit einen vorbildlichen Charakter für weitere lokale und regionale Studien zur Konversion von Juden und ihren Folgen, bereichern aber darüber hinaus auch breitere Fragestellungen wie die von Integration und Desintegration von Minoritäten in der Geschichte Europas. Dabei verdienen die kirchlichen Häretisierungsprozesse von Juden und jüdischen Konvertiten im Spannungsfeld von päpstlichen Universalherrschaftsansprüchen und spätmittelalterlichen obrigkeitlichen Vertreibungsideologien gewiss nochmals gesonderte Aufmerksamkeit.

Hans-Martin Kirn