Thomas Vordermayer: Bildungsbürgertum und völkische Ideologie. Konstitution und gesellschaftliche Tiefenwirkung eines Netzwerks völkischer Autoren (1919-1959) (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 109), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2016, IX + 470 S., ISBN 978-3-11-041475-2, EUR 59,95
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Als der Wirtschaftshistoriker und Vaterlandsparteiaktivist Georg von Below seine Landsleute infolge der Kriegsniederlage von 1918 zu einer Besinnung auf die Werte von 'Volkstum und Heimat' nach jenen Mustern aufrief, die im Kaiserreich bereits eingeübt worden seien, fuhr ihm der Publizist Wilhelm Stapel in die Parade. Der Herausgeber der Zeitschrift 'Deutsches Volkstum' plädierte 1920 für einen konsequenten Neubeginn völkischen Denkens. Es sollte seinen ideellen Fluchtpunkt in einem zuvor gänzlich unbekannten "Volkserlebnis" finden. Stapel schwebte ein kontemplativ vorbereitetes, dann emotional überwältigendes Aufgehen jedes einzelnen Deutschen in der von zeitlosen Ahnenreihen und künftigen Geschlechterfolgen versinnbildlichten Essenz des eigenen Volkstums vor. Es ging ihm also um einen voluntaristisch-sinnlichen Integrationsakt, dessen Distanz zu heimatlicher Folkloristik ebenso auf der Hand lag wie zum alldeutschen Heil- und Siegerkranzgrobianismus.
Stapels protestantisch-pastoral intoniertes Volkstumsbekenntnis dient der Augsburger Dissertation Thomas Vordermayers zur Illustration einer allenfalls punktuell überbrückbaren Wasserscheide zwischen den wilhelminischen Volkstumsaxiomen einerseits und seinen oft radikalisierten und intensivierten Varianten nach 1918 andererseits. Ihren Urhebern bzw. ihren Vermittlern im Freund-Feind-kategorial gespaltenen Geltungsbereich von Literatur und Publizistik geht die belesene, methodisch reflektierte, jedoch irritierend anmerkungslastige Untersuchung anhand einer Analyse völkischer Netzwerkbildung nach. In ihrem Zentrum stehen neben dem auf seinen Ruf als 'bildungsdistinkten' Antisemiten bedachten Stapel zwei weitere, weniger journalistisch als künstlerisch exponierte Galionsfiguren des deutschen ultrarechten Lagers zwischen der Weimarer und der Bonner Republik: Erwin Guido Kolbenheyer und Hans Grimm. Beide Erfolgsautoren genossen bis zur Mitte der 1930er Jahre eine im nationalistischen Binnenmilieu nahezu unangefochtene Reputation. Kolbenheyer reüssierte als Verfasser einer geschichts- und volkstumstheoretisch aufgeblähten Romantrilogie über die bald auch zu Filmruhm gelangende Deutschtumsikone Paracelsus. Der bis heute bekanntere Grimm lieferte mit seinem völkischen Topseller 'Volk ohne Raum' sowohl antisemitische und 'antimarxistische' als auch expansions- und 'rassenpolitisch' wirksame Leitbegriffe, wenn nicht sogar Handlungsanleitungen.
Die meistens auf Korrespondenzen basierenden Kontakte dieses Trios legt Vordermayer unter Berücksichtigung vorübergehender Verstimmungen anschaulich offen. Ein verlagslandschaftlich, medial, teilweise auch universitär ausstrahlendes Renommee wird klar konturiert. Da vor allem Stapel und Grimm einer Volkstumsideologie das Wort redeten, welche konsequenten Abstand zu Ariosophen, nordischen Wesensmystikern, rassistischen Neuadels-Propheten und ähnlichen Obskuranten hielt, leisteten sie im republikskeptischen Bildungsbürgertum durch Wort und Schrift eine willkommene weltanschauliche Orientierungshilfe. Ihre frühe Unterstützung der NSDAP und Hitlers war dabei nicht von Nachteil. Sie gründete auf der Übereinstimmung normativer Ordnungsvorstellungen einschließlich der ihnen notorisch zugehörigen Disqualifizierung von 'Materialismus' und 'Amerikanisierung', von metropolitan-pluralisierten Lebensstilen, von sozialer und geschlechtlicher Emanzipation u. ä.
Zu den beträchtlichen Vorzügen der Studie zählt ihr Nachweis einer, wenn auch relativen, so doch bezeichnenden Auflösung des harmonischen Verhältnisses zwischen Volkstumsdichtung und völkischer Politik seit etwa 1935. Während Kolbenheyer durch seinen NSDAP-Beitritt 1940 und laute ostimperiale Kriegsgesänge manche Friktion mit NS-Organisationen auszugleichen vermochte, gerieten seine Kollegen mit der Zeit nämlich ins soziokulturelle Abseits. Ein Konflikt zwischen Grimm und Goebbels sowie eine prinzipiell analoge Auseinandersetzung zwischen Stapel und dem SS-Periodikum 'Das Schwarze Korps' waren symptomatisch. In diesen Kontroversen zeichnete sich, wie Vordermayer mit Fug und Recht registriert, eine Abkehr des NS-Systems von verschiedenen Kernanliegen und damit auch von der Führungskohorte des ethnozentrischen Deutungsestablishments ab. Die vielfach unerwartete Distanzierung hat, wie neuere Forschungen markant unterstreichen, auch prominent positionierte 'volkskulturelle' Organisationen, 'volkswissenschaftliche' Institutionen und 'volkskirchliche' Initiativen betroffen. Als Ursachen für die 'Entfremdung' zwischen den Weimarer Völkischen und den braunen Vollstreckern eines gewaltobsessiven Ethnoradikalismus werden sehr überzeugend generationelle Brüche neben teilweise gravierenden - leider nicht gründlich systematisierten - Gegensätzen in Fragen der Herrschaftspraxis angeführt. Die neuen Funktionseliten des NS-Staates dachten tatsächlich nicht daran, sich an die Leine bzw. das Gängelband von 'Bildungsphilistern' legen zu lassen, die eine gewaltexzessive Überwindung des bürgerlichen Komments kaum in dem gewünschten Maße nachzuvollziehen vermochten. Das in arrivierten völkischen Kreisen beständige Unbehagen angesichts einer zwangskollektiven Arbeitsfront, einer uniformierten Vergemeinschaftung 'des Volkes', einer Geringschätzung der 'Geistesaristokratie' zugunsten der marschierenden 'Masse' usw. quittierten die jungen 'Unbedingten' mit teils höhnischer, teils aggressiver Missachtung. Dennoch haben die daraus resultierenden Widrigkeiten und Ärgernisse das völkische Dichterdreigestirn keineswegs daran gehindert, auf seltene Anfragen hin die Propagandamaschinerie des Führerstaates zu bedienen. Grimm deklarierte seine Loyalität zu Hitler noch am Ende des Jahres 1944.
Es trifft sicherlich zu, dass solche Bekundungen nicht auf bloßen Opportunismus zurückzuführen waren. Aber sie sind wohl auch nicht allein dem Umstand geschuldet gewesen, dass man als 'public intellectual' auf Gedeih und Verderb an das wortreich herbeigerufene NS-Regime gebunden blieb. Wahrscheinlich erschien die Vorstellung eines unterlegenen, mithin 'amerikanisierten' oder 'bolschewisierten' Deutschlands schlechterdings unerträglich. Diese Annahme legen die prägnanten abschließenden Ausführungen über die jeweiligen Nachkriegskarrieren und die Unbelehrbarkeit der poetischen Netzwerker nahe. Kolbenheyers Rehabilitationsanstrengungen, Grimms NS-apologetische 'Erzbischofschrift', beider Eintreten für den Stammplatzerhalt im nationalen Literaturkanon deuten die Stolpersteine an, welche der Liberalisierungsweg der Bundesrepublik mitunter prekär verdichtet aufwies. Vordermayer hat einen wichtigen Beitrag zu Aufhellung ihrer Herkunft, ihrer Bearbeitung und ihrer späten Beseitigung geleistet. Es ist zu hoffen, dass seine Befunde über die historische Zielgruppe hinaus, auch ein literarisch-ästhetisch interessiertes Fachpublikum erreichen.
Willi Oberkrome