Sabine Pamperrien: Helmut Schmidt und der Scheißkrieg. Die Biografie 1918 bis 1945, München / Zürich: Piper Verlag 2014, 347 S., ISBN 978-3-492-05677-9, EUR 19,99
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Unstrittig zählt Helmut Schmidt (1918-2015) zum Kreis jener Staatsmänner, die sich in die Kategorie "Politiker von Weltformat" einordnen lassen - und dies nicht allein aufgrund der Tatsache, dass die Zeit seiner Kanzlerschaft zwischen 1974 und 1982 geprägt war von zahlreichen politischen Weichenstellungen, die die innere Verfasstheit der Bundesrepublik, aber auch die Entwicklung des Ost-West-Verhältnisses in entscheidender Weise beeinflussen sollten. Nicht wenigen Deutschen gilt Schmidt als "der letzte Staatsmann" [1], der neben seinen fachlichen Kompetenzen zugleich auch durch seine Eloquenz, seine Redegewandtheit, aber auch durch seine Führungsqualitäten und durch sein Charisma zu bestechen wusste.
Daher herrscht an Biografien über ihn kein Mangel. Zu den aktuelleren Studien über Helmut Schmidt zählt das 2014 erstmalig im Piper Verlag erschienene Buch der Berliner Publizistin Sabine Pamperrien "Helmut Schmidt und der Scheißkrieg", das sich vorrangig mit der Kindheit und Jugend im Elternhaus in Hamburg sowie mit seiner Zeit als Soldat im Nationalsozialismus und während des Zweiten Weltkrieges auseinandersetzt. Die promovierte Literaturwissenschaftlerin ist bislang insbesondere mit Untersuchungen zum Literaturbetrieb der DDR in Erscheinung getreten und konnte im Zuge der Recherchearbeiten zu dem hier besprochenen Buch unter anderem auch die Wehrmachts-Personalakte Helmut Schmidts sowie Unterlagen über Schmidts Vater Gustav einsehen und überdies Personen aus dem Umfeld des Altkanzlers interviewen, die ihn seit seiner Kindheit kannten. [2] Das Werk selbst umfasst 350 Seiten und ist in vier Abschnitte zuzüglich Vorwort und Anhang gegliedert.
Der erste Abschnitt "Herkunft und Kindheit" widmet sich auch dem Leben von Schmidts Vater Gustav, dessen Werdegang im Deutschen Kaiserreich wie in der jungen Weimarer Republik und bettet diese Erzählung ein in den historischen Kontext der Zeit, in der der aus einfachen Verhältnissen stammende Gustav Schmidt schließlich 1924 zum Leiter einer Handelsschule aufstieg. Offensichtlich hatte Helmut viel von der Zielstrebigkeit und Leistungsfähigkeit, aber zugleich auch vom Selbstbewusstsein seines Vaters geerbt, durch das er sich gegenüber seinen Klassenkameraden in der Schule oder beim Rudern beziehungsweise Segeln auf der Alster auszeichnete. Gut möglich, dass Schmidt Architekt oder Stadtplaner geworden wäre - allerdings hatten sich die politischen Verhältnisse in Deutschland 1933 geändert. Die sich nun anschließenden Teile der biografischen Studie, die sich mit der militärischen Sozialisation Helmut Schmidts und mit seinem Handeln im Zweiten Weltkrieg auseinandersetzen, bilden den Mittelpunkt der gesamten Untersuchung. Die Verfasserin nimmt hier Bezug auf spätere Aussagen Schmidts und auf einschlägige autobiografische Einlassungen des Altkanzlers in Büchern und Zeitschriften - die im Buchtitel verankerte Formel "Scheißkrieg" geht zurück auf einen in diesem konkreten Zusammenhang vielfach von Schmidt gebrauchten Terminus, mit dem er seiner Meinung vom Zweiten Weltkrieg handfest Ausdruck verlieh.
Ende 1937 war Helmut Schmidt zum Wehrdienst nach Bremen eingezogen worden, wo er bei der Flakartillerie diente. Mit Kriegsbeginn gelangte er als Feldwebel zunächst bei der Luftverteidigung Bremens zum Einsatz. Nach der Beförderung zum Leutnant und einem Intermezzo beim Oberkommando der Luftwaffe in Berlin sowie bei der Flakartillerieschule II in Stolpmünde nahm Schmidt als Zugführer einer leichten Flakartillerieabteilung der 1. Panzerdivision von August bis Januar 1942 am Feldzug gegen die Sowjetunion teil. Dabei wurde Schmidts Abteilung nicht allein in Luftabwehrkämpfe verwickelt; die leichte Flak gelangte zugleich auch bei der Bekämpfung gegnerischer Panzer und bei der Zerstörung feindlicher Widerstandsnester zum Einsatz. Es dürften wohl insbesondere diese Monate unablässiger harter Kämpfe gegen die Rote Armee gewesen sein, die sich Schmidt - wie allen Kriegsteilnehmern - tief eingeprägt haben und die fortan sein Bild vom Krieg bestimmen sollten. Von 1942 bis 1944 wirkte er wiederum als Ausbilder bzw. als Referent am Oberkommando der Luftwaffe in Bonn und Berlin. Im Januar 1945 kam Helmut Schmidt als Oberleutnant und Batteriechef der leichten Flakabteilung 78 erneut zum Fronteinsatz - diesmal im Westen. Hier geriet er schließlich auch im April 1945 in britische Gefangenschaft.
Wie bereits in der Einleitung und im Kapitel "Hitlerjugend" des ersten Abschnitts der Biografie wird auch in diesem zentralen Teil der Arbeit das offenkundige Bemühen der Autorin deutlich, unter Rückgriff auf überlieferte Aktenbestände spätere Einlassungen Helmut Schmidts zum Krieg selbst wie zu seiner damaligen Position im beziehungsweise seine Haltung zum Nationalsozialismus nicht allein kritisch zu hinterfragen, sondern vielmehr als vermeintliches Zurechtbiegen des eigenen Lebenslaufes zu entlarven. Gewiss wäre es spätestens an diesem Punkt sinnvoll gewesen, sich mit "Zeitzeugen" in ihrer Eigenschaft als historische Quellen für Historiker auseinanderzusetzen. So haben etwa Harald Welzer und Lutz Niethammer in einer ganzen Reihe einschlägiger Untersuchungen auf die Möglichkeiten und Grenzen des Erinnerns und der wissenschaftlichen Verwertbarkeit von Zeitzeugenaussagen, gerade aus dem Feld der Generation der Kriegsteilnehmer, eindringlich hingewiesen.
Nicht in jedem Fall gelingt es Sabine Pamperrien, die von ihr ausgewerteten Quellen mit der einschlägigen Forschungslage sowie mit den Berichten Helmut Schmidts in Einklang zu bringen. So mutet das auf Seite 165 formulierte Postulat recht erstaunlich an, Schmidt hätte auf der Grundlage der Lektüre von Erich Maria Remarques pazifistischem Weltkriegsroman "Im Westen nichts Neues" eine Antikriegshaltung entwickeln müssen. Zeigt sich damit doch exemplarisch das Bemühen der Verfasserin, Geschichte nicht aus der Perspektive der vielfältigen gesellschaftlichen Zusammenhänge der Zeit, sondern aus heutiger Sicht zu re-konstruieren und zu beurteilen. Tatsächlich wurde die öffentliche Wahrnehmung des Weltkrieges zwischen 1918 und 1933 bei Weitem nicht allein von Pazifisten geprägt, waren es - insbesondere in der Endphase Weimars - doch häufiger jene Akteure aus dem linken wie rechten Lager, die ihre individuelle Gewalterfahrung in die politische Auseinandersetzung einzubringen trachteten. Selbst im Milieu der republikanisch gesonnenen Veteranen herrschte Uneinigkeit über die Frage von Gewalt und Gegengewalt in der politischen Auseinandersetzung. [3]
Im abschließenden vierten und mit dem polemischen Titel "Der Soldatenkanzler" überschriebenen Teil der Arbeit, der zugleich als Ausblick auf die Ära des SPD-Politikers Helmut Schmidt wie auch als Zusammenfassung lesbar ist, sucht die Verfasserin Schmidts im Zweiten Weltkrieg erworbene "soldatische Tugenden" in einen direkten Zusammenhang zum staatsmännischen Handeln des Bundeskanzlers in den Hochzeiten des RAF-Terrors in der Mitte der 1970er-Jahre zu bringen. Sie skizziert dabei nicht allein das Bild eines Mannes, vielmehr das eines Politikertypus, der etwa in den Stunden und Tagen höchster psychischer und physischer Belastung während der Entführung der Lufthansa-Maschine "Landshut" nach Mogadischu im Oktober 1977 die Nerven behielt und sich im Krisenstab durch das mit einem Spazierstock simulierte Gewehrexerzieren abzulenken suchte. Hat man sich so einen "Soldatenkanzler" vorzustellen? Sicher nicht. Dürfte doch - um im Kontext der Lebenszeit Schmidts zu bleiben - Kurt von Schleicher (1882-1934) diesem Bild weit mehr entsprochen haben.
Sabine Pamperriens biografische Studie über das Leben Helmut Schmidts basiert auf einer Reihe bislang kaum beachteter Quellen und setzt diese in Beziehung zu einer Vielzahl von Selbstzeugnissen des Ende 2015 verstorbenen Altbundeskanzlers. Dabei tritt nicht allein die tiefe Prägung Schmidts durch den Krieg zutage, die er mit vielen anderen Vertretern dieser Generation teilte und die auch bei ihm nicht frei war von Unklarheiten und Irrtümern. Deutlich wird zugleich die große Distanz der Autorin zum Habitus des Offiziers, ja zum Militärischen allgemein, die sich wohl der Tatsache verdankt, dass derlei "Kompetenzen" in der heutigen Bundesrepublik außer Kurs sind - allen Auslandseinsätzen der Bundeswehr zum Trotz.
Anmerkungen:
[1] So titelte "Der Spiegel" in seiner am 19. November 2015 erschienenen biografischen Studie über Schmidt.
[2] Allerdings verweist Sabine Pamperrien auf Seite 278 darauf, dass Helmut Schmidt ihr bei ihren Arbeiten selbst keine direkte Unterstützung zuteilwerden ließ.
[3] Vgl. Benjamin Ziemann: Veteranen der Republik. Kriegserinnerung und demokratische Politik 1918-1933, Bonn 2014.
Hendrik Thoß