Karlheinz Haberlandt / Bernhard Stumpfhaus (Hgg.): Der Maler und Zeichner Richard Haberlandt. Werke von 1907-1963, Heilbronn: o.V. 2014, 168 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-00-047385-2, EUR 28,00
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51 Jahre nach seinem Tod erschien 2014 anlässlich einer Ausstellung im Stadtmuseum Klostermühle in Bad Urach [1] der erste Katalog zu Leben und Werk Richard Haberlandts, eine 168 Seiten umfassende, sorgfältig gedruckte Publikation mit überwiegend hervorragenden Abbildungen und mit Textbeiträgen von Sergiusz Michalski, Bernd Apke, Bernhard Stumpfhaus, Karlheinz Haberlandt und Thomas Braun. Bis auf wenige Ausnahmen - drei Gemälde, die dem Stadtmuseum Klostermühle in Bad Urach gehören - stammen alle abgebildeten Werke aus Privatbesitz. Herausgeber des Katalogs sind Bernhard Stumpfhaus, der die Ausstellung auch kuratiert hat, und Karlheinz Haberlandt, einer der drei noch lebenden Neffen des Künstlers, der mit der Lebensgeschichte seines Onkels vertraut ist wie kein anderer.
Der Katalog der chronologisch aufeinander folgenden Abbildungen der Werke Haberlandts (27-147) orientiert sich an den Stationen seines Lebens: "Familie; Frühzeit 1911-1914; Kriegstagebücher 1915-1918; Gera 1919-1936; Urach 1937-1945; Urach 1946-1963" (5). Die meisten der hier vorgestellten Werke verdanken sich der Arbeit eines Künstlers, der Zeit seines Lebens durch die Folgen einer im Ersten Weltkrieg erlittenen schweren Traumatisierung gesundheitlich eingeschränkt war. Immer wieder musste Haberlandt seine psychischen Erkrankungen, seine Depressionen und nervösen Störungen in den psychiatrischen Abteilungen verschiedener Krankenhäuser, in Nervenkliniken und Sanatorien behandeln lassen. Dem Abbildungsteil voraus gehen die kunsthistorischen Beiträge von Michalski, Apke und Stumpfhaus. Den Bildern folgen zwei weitere Texte: der kenntnisreiche, von Empathie getragene biografische Beitrag von Karlheinz Haberlandt über "Leben und Schicksal unseres Onkels Richard" [2] und ein Aufsatz von Thomas Braun über "Das Urach des Richard Haberlandt, 1937-1963", der verständlich macht, warum dieser Ort ab 1937 zur "Wahlheimat" (162) des Künstlers wurde.
Sergiusz Michalski würdigt unter dem Titel "Richard Haberlandt: Ein Schaffen entlang geschichtlicher und psychischer Abgründe" (6) den Künstler als mit Otto Dix und Kurt Günther befreundeten Maler der Neuen Sachlichkeit in Gera, der dieser Form realistischer Malerei bis weit in die 30er-Jahre hinein verpflichtet blieb. Ein besonderes Interesse hat Michalski an Haberlandts Skizzenbüchern aus dem Ersten Weltkrieg (1915-1918) und an dem um 1930 entstandenen, verschollenen großformatigen Bild "Die unbekannten Opfer", zu dem sich zwei in dieser Zeit entstandene größere Zeichnungen erhalten haben. Mit dem vergleichenden Blick auf Otto Dix' Radierzyklus "Der Krieg" (1924) und Dix' große Gemälde vom Ersten Weltkrieg gelangt Michalski zu der Auffassung, dass in Haberlandts Bild von den unbekannten Opfern eine grandiose Bildidee, mehr noch: "eine grandiose Vorahnung des Zweiten Weltkrieges" (7) zu sehen ist. Solche Emphase ist nicht einfach nachzuvollziehen. Schon die geringe Zahl der Bilder und die Beschränkung auf das Motiv des Schlachtfeldes deuten darauf hin, dass der um 1930 weiterhin unter den Folgen seiner Traumatisierung leidende Haberlandt kein mit Otto Dix vergleichbares Bedürfnis hatte, sich mit den Schrecken des Ersten Weltkrieges auseinanderzusetzen. Haberlandts allegorisches Bild von den unbekannten Opfern ist eine über seine Kriegszeichnungen hinausgehende Erinnerung an seine Kriegserfahrungen, eine Darstellung des Todes auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges, die Haberlandt aus guten Gründen nicht fortgesetzt hat. Dafür spricht auch die Beobachtung von Karlheinz Haberlandt, dass sein Onkel "die erlebten Schrecken der Schlacht, die Sturm- und Gasangriffe, den Einsatz der Waffen, die Verwundeten und Gefallenen nicht in seinen Zeichenblöcken dokumentierte. Es ist, als ob er sich von den Kriegsgräueln und deren Unheil weggeduckt hat, um sich stattdessen mit Hilfe des Zeichnens seiner nächsten Umgebung und dem Porträtieren seiner Kameraden zur Ruhe und Gefasstheit zu zwingen." (152)
Bernd Apke untersucht Haberlandts Selbstbildnisse im Kontext der Geschichte dieser Bildgattung und konstatiert im Titel seines Beitrags "Ernste Absichten" (10). Haberlandt teilte diese mit vielen Künstlern des 20. Jahrhunderts, die im Selbstbildnis die Auseinandersetzung nicht nur mit sich selbst suchten, sondern zugleich ihr Alter Ego inszenierten. Auch wenn Apke dem umfangreichen Komplex der Haberlandtschen Selbstbildnisse im Einzelnen nicht nachgeht, lässt er keinen Zweifel daran, dass das Selbstporträt im Schaffen Haberlandts eine andauernde, für die Einschätzung der Befindlichkeit des Künstlers zentrale Rolle spielte.
Bernhard Stumpfhaus gibt in seinem Beitrag "Von der Vergangenheit verfolgt. Ein Leben zwischen Bewältigung und Kunst" (14) einen detaillierten Überblick über Haberlandts Lebenswerk. Auffallend ist, dass Stumpfhaus Haberlandts künstlerische Aktivitäten der 40er- und 50er-Jahre ausgesprochen positiv bewertet im Gegensatz zu Michalski, der die Ansicht vertritt, Haberlandt habe nach 1940 und mehr noch in den 50er-Jahren die Kraft verlassen, prägnante Bildformulierungen zu erarbeiten. Zu beobachten ist in den 50er-Jahren ein ausgeprägtes Interesse an den alltäglichen Dingen, am Kleinen, Unscheinbaren, scheinbar Bedeutungslosen. Haberlandt fand es in seiner Nähe, in seinen privaten Räumen, im Schlafzimmer, in der Leseecke des Wohnzimmers, im Atelier. "In diesen Szenerien", schreibt Stumpfhaus, "scheint sich der Künstler einmal mehr an Menzel zu orientieren." (24) Für seine Stillleben und Interieurs wählte er in dieser Zeit allerdings ein ungewöhnliches Kolorit, Orange, Grün, Blau, Rot und Gelb, intensive Farben, die er, wie Stumpfhaus richtig festhält, "vorher für die Kennzeichnung der Entrücktheit der alpinen Gipfel" (24) verwendet hat. Neben der Vorliebe für die kleinen, nahen Dinge gab es also gleichzeitig ein starkes Interesse am Fernen, Unerreichbaren, Geheimnisvollen von Landschaft und Natur, am Monumentalen und Erhabenen der von Haberlandt immer wieder aufgesuchten Gebirgswelt. Es entstanden Landschaftsgemälde wie zum Beispiel "Drei Zinnen (Dolomiten)" (1950) oder "Matterhorn" (1953), die mit ihrer leuchtenden Farbigkeit und ihren kraftvollen Vereinfachungen dem modernen, an den frühen Expressionisten beobachteten Bedürfnis zu folgen scheinen, "sie einerseits gleichsam aus innerer Schau visionär aufzuladen, sie andererseits naturalistisch nachzumalen" (24).
Im März 1937 zog Richard Haberlandt nach Bad Urach, das er 1935 während einer mehrwöchigen Kur in einem Sanatorium kennengelernt hatte. Zum 01.10.1939 wurde er mit 74% seiner Bezüge als Zeichenlehrer in den Ruhestand versetzt. Haberlandt konnte von dem Geld leben, er war finanziell unabhängig und an einem Ort, an dem er sich in den Jahren des Nationalsozialismus sicher fühlte. Vor ihm lagen noch über 20 Jahre, in denen er seiner künstlerischen Arbeit nachging. Er nutzte die Zeit, kaufte ein Motorrad, reiste, solange sein Gesundheitszustand dies zuließ, blieb im Austausch mit Menschen, die ihm nahestanden, hörte nicht auf zu malen und zu zeichnen. Ein schönes Beispiel seiner späten Produktivität und wohl auch seines besonderen Humors sind Richard Haberlandts letzte, im Psychiatrischen Landeskrankenhaus Zwiefalten entstandene Zeichnungen, darunter eine mit dem Wort Finis (Ende) versehene Kuli-Zeichnung seines Hauspantoffels, die er auf den 27. Dezember 1963 datierte. Der Tod kam eher; Haberlandt starb am 11.06.1963.
Anmerkungen:
[1] Der Ausstellung in Bad Urach 2014 waren zwei weitere Einzelausstellungen vorausgegangen. 1990: Gedächtnisausstellung Richard Haberlandt zum 100. Geburtstag. Forumveranstaltung der Kreissparkasse Reutlingen in der Kundenhalle in Bad Urach. 2004: Richard Haberlandt - Der Künstler und sein Lebensraum. Stadtmuseum Klostermühle, Bad Urach.
[2] Karlheinz Haberlandt verweist auf wichtige Quellen: Richard Haberlandts Personalakte als Zeichenlehrer in Gera, die von 1919 bis 1939 reicht, befindet sich im Thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar (148). Die im Stadtarchiv Gera verwahrten Akten des Geraer Kunstvereins enthalten 12 Rezensionen, die Haberlandt in den 1920er-Jahren über Ausstellungen des Vereins in der Geraer Zeitung veröffentlichte. Karlheinz Haberlandt sieht in ihnen die bisher "einzigen authentischen Belege über Richard Haberlandts Verständnis und Auffassung von Kunst" (154). Der Zugang zu Haberlandts Krankenakten ist wegen der 60-jährigen Sperrfrist zurzeit nicht möglich (148).
Annegret Jürgens-Kirchhoff