Roberta Fabiani: I decreti onorari di Iasos. Cronologia e storia (= Vestigia. Beiträge zur Alten Geschichte; Bd. 66), München: C.H.Beck 2015, XIV + 354 S., 92 Abb., ISBN 978-3-406-64843-4, EUR 108,00
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Seit 1960 haben italienische Archäologen die in der Südwesttürkei liegende antike Stadt Iasos erforscht. Unter den Funden sind viele Inschriften, die nach und nach publiziert worden sind. Das Hauptproblem mit der historischen Einordnung dieser Texte ist aber deren unsichere Chronologie, da die allerwenigsten davon sich genau datieren lassen. Roberta Fabiani hat sich in einer modellhaften Untersuchung mit der größten Gruppe dieser Inschriften, den sogenannten Ehreninschriften, beschäftigt. Es handelt sich um ca. 120 Volksbeschlüsse, welche unterschiedliche Vergünstigungen an verdiente ehrenwürdige Fremde oder Bürger verleihen; sie erstrecken sich zeitlich von der Mitte des 4. Jahrhunderts v.Chr. bis in die Anfänge des 2. Jahrhunderts v.Chr. Fabiani geht es darum, durch eine minutiöse Analyse verschiedenster Elemente der Texte - Sprache, Verfassungsformalien, Benennung von verschiedenen Amtsträgern, der Schriftform bis hin zur Identifikation unterschiedlicher Steinmetzen - Textgruppen zu bilden, die wegen der Koinzidenz von verschiedenen Kriterien zeitlich zusammengehören und sich wegen Ähnlichkeiten mit den wenigen festdatierbaren Texten innerhalb von wenigen Jahren datieren lassen. Der Weg dorthin wird kapitelweise in kommentierten Tabellen (insgesamt 37 davon) zusammengefasst, sodass die Arbeitsstufen, die zur Bildung der signifikanten Textgruppen führen, dem bemühten Leser deutlich gemacht und so nachvollziehbar werden. Auf diese Weise bringt ihre mit bewunderungswürdigem Fleiß durchgeführte Analyse der meistens nur fragmentarisch erhaltenen einzelnen Texte das vordergründig nicht sehr aussagefähige Gesamtmaterial zum Sprechen. Fabiani zu folgen ist allerdings keine leichte Lektüre, wenige Leser werden wohl das gesamte Opus durcharbeiten wollen.
Die Arbeitsmethode besticht zwar, die kritische Frage jedoch stellt sich wegen der historischen Ergebnisse, welche die Autorin in Kapitel VIII (279-308) zusammenträgt. Daran wird zu messen sein, ob sich die mühselige Detailarbeit an den Inschriften gelohnt hat. Von einer Sammlung von kleinstädtischen Ehrendekreten, deren Rezipienten meistens sonst unbekannt sind, wird man von vorneherein keine weitreichenden Erkenntnisse über die zeitbestimmende "große" Politik erwarten. Eher ist mit einer Reflektion der großen Politik auf die Verhältnisse in der kleinen Stadt zu rechnen, wobei quellenbedingt vor allem die sozialen und organisatorischen Aspekte der historischen Entwicklung fassbar werden. Da es sich bei dem Quellenmaterial ausschließlich um Beschlüsse der Volksversammlung handelt, ist die Rolle der Versammlung selbst sowie deren Verhältnis zum Rat und den einzelnen Ämtern der Stadt einer der Hauptgegenstände der Untersuchung. Kritisch für die Entwicklung der demokratischen Institutionen in Iasos war die Befreiung der Stadt durch Alexander den Großen von der Herrschaft der in Karien regierenden Hekatomniden; diese führte zunächst zu einer gewissen Inflation der publizierten Dekrete, wobei Fabiani feststellen kann, dass im Verlaufe der Zeit prozedurale Selbstbeschränkungen beschlossen wurden: z.B. wurde eine Bestimmung eingeführt, dass die für die Körperschaft der Bürger ganz wichtigen Bürgerrechtsverleihungen nur einmal im Jahr, und zwar in der Sitzung am 6. des Monats Aphrodision beschlossen werden konnten. Ob dies als Einschränkung der Demokratie oder einfach als eine Effizienzsteigerung betrachtet werden soll, kann man unterschiedlicher Meinung sein. Sicher ist allerdings, dass sich in Iasos, wie anderswo, im Verlaufe des 3. Jahrhunderts eine Steigerung der politischen Bedeutung der städtischen Elite im politischen Prozess feststellen lässt, da gegen Mitte des Jahrhunderts Anträge in der Volksversammlung nur von Inhabern des Prytanenamtes gestellt worden sind. Ob dies formale beschlossene Regel oder nur ausgeübte Praxis war, reicht das Quellenmaterial nicht aus, um zu entscheiden. Die Praxis bedeutete aber gewiss eine Einschränkung der Antragsfähigkeit des normalen Bürgers, der nicht Amtsinhaber war.
Im späten 3. Jahrhundert und frühen 2. Jahrhundert ist eine deutliche Minderung der Zahl der auf Stein publizierten Ehrendekrete feststellbar, was sich - selbst wenn es vordergründig eher ein Zeichen für die striktere Beachtung der Wirtschaftlichkeit derartiger Tätigkeit ist - dennoch auf eine strengere Auswahl der geehrten Personen im Sinne einer gesamtgriechischen Elitebildung interpretieren lässt. Ähnliche Entwicklungen sind gewiss auch in anderen griechischen Staaten, insbesondere in Athen, erkennbar, für Iasos aber erst jetzt nach der von Fabiani erarbeiteten neuen chronologischen Einordnung der Ehrendokumente gut belegt.
Eine besondere Gruppe der Ehreninschriften befasst sich mit den fremden Richtern, die seit den 230er-Jahren immer wieder in die Stadt geholt wurden, um einen gerichtlichen Verfahrensstau aufzulösen und potentielle politische Streitfälle politisch neutral zu entscheiden. Anlass war wohl immer eine Zeit der internen politischen Auseinandersetzung unter den Bürgern, die vorausgegangen war. Fabiani nimmt diesbezüglich Stellung zu einer Interpretation von Charles Crowther, der die fremden Richter, da sie förmlich von der Volksversammlung eingeladen wurden, als Hinweis auf die fortlebenden Entscheidungsbefugnisse der versammelten Bürger angesehen hat. Fabiani betont im Gegensatz dazu, dass die Richter, die geholt wurden, immer der jeweiligen Oberschicht angehörten - sonst hätten sie wohl keine Autorität gehabt -, eben jener Schicht, aus welcher die hohen Amtsträger in Iasos selbst sich rekrutierten. Das Berufen von solchen fremden Richtern ist also eher als ein Misstrauensbeweis für die allgemeine Akzeptanz der eigenen Populargerichte, die sonst zuständig gewesen wären, zu interpretieren. Nach einer intensiven politischen Auseinandersetzung, eventuell mit politisch bedingten Exilierungen samt Vermögenseinzug - belegt z.B. aus den 190er-Jahren, als zwischen den Anhängern des Seleukidenkönigs Antiochos III. und jenen der Römer ein existenzieller Machtkampf stattfand - ist es auf jeden Fall verständlich, dass die Berufung einer politisch neutralen aber sozial angesehenen Instanz ein gangbarer Weg erscheinen könnte. Ob das Phänomen der fremden Richter überhaupt geeignet ist, ein Urteil über das Niveau der demokratischen Beteiligung der Bürger der betroffenen Städte zu fällen, bleibt allerdings unsicher. Vielleicht war es nur eine durch Vernunft und Bereitschaft zu Kompromiss gesteuerte Methode der Krisenbewältigung.
Die Arbeit schließt mit einem Anhang, der eine Anzahl von Textemendationen und Verbesserungen gegenüber vorliegenden Texteditionen bringt, einer Bibliografie und neun besonders wertvollen Registern, die es erlauben, jedes Detail der umfangreichen Untersuchungen schnell zu erschließen. Man muss der Autorin dankbar sein, dass sie die entsagungsvolle Kleinarbeit nicht gescheut hat, um dieses umfangreiche, aber eher spröde epigrafische Quellenmaterial intensiv zu bearbeiten und dem Fachpublikum neue Ansätze zur Interpretation zu liefern.
R. Malcolm Errington