Ulrich Wiegmann: Agenten - Patrioten - Westaufklärer. Staatssicherheit und Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR, Berlin: Metropol 2015, 397 S., ISBN 978-3-86331-231-2, EUR 24,00
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"Was will man als Bildungshistoriker mehr?" [1] Mit dieser Frage, die die Antwort freilich schon in sich trägt, bewirbt Ulrich Wiegmann in einem offenkundig selbst produzierten Werbevideo seine aktuelle Monographie, die sich der Frage widmet, wie sich "wahrheitsliebende Aufklärungsarbeit als Wissenschaftler und verdeckte Ermittlungen, Heimlichtuerei, Denunziation, verdunkelte Informationsbeschaffung, Gesinnungsschnüffelei und Spionage alltäglich miteinander vereinbaren lassen" (8). Damit knüpft er an eines seiner letzten Bücher an und nimmt die wohl wichtigste Großforschungseinrichtung der DDR im Bereich Erziehungswissenschaften in den Blick, die bislang von der Forschung eher stiefmütterlich behandelt worden ist. Dabei geht es ihm um zweierlei: Zum einen möchte er erkunden, wodurch sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften (APW) durch ihre Spitzeltätigkeit "als Wissenschaftler diskreditiert" (9) hätten. Zum anderen geht es ihm darum, und das klingt in den Ohren des Zeithistorikers wesentlich vielversprechender, eine Beziehungsgeschichte von APW und Stasi vorzulegen. Das ist sehr ambitioniert.
Um es aber vorweg zu nehmen: Die hohen Ansprüche, die sich Wiegmann stellt, kann er nur zu einem geringen Teil erfüllen. Vielmehr liegt hier ein Buch vor, das allenfalls vor 25 Jahren, als die DDR noch als riesiger Stasi-Krake galt, für Aufsehen hätte sorgen können. Das ließe sich vielleicht noch zähneknirschend zur Kenntnis nehmen. Ärgerlich ist indes, dass die Studie kaum wissenschaftlichen Standards genügt. Das ist umso bedauerlicher, da Wiegmann nach eigenen Angaben eineinhalb Jahrzehnte im Archiv des BStU geforscht hat, was an sich schon Respekt verdient. Woran hakt es aber im Einzelnen?
Methodische und theoretische Reflexionen vermisst man in diesem Buch ebenso wie eine Einordnung des Themas in aktuelle Debatten und in den Forschungsstand, der insbesondere zur Geschichte der Staatssicherheit in den letzten Jahren bedeutende Erweiterungen erfahren hat. Das führt dazu, dass sich Wiegmann vorwiegend der (heute allenfalls noch politisch interessanten) Schuldfrage widmet, die Beziehungsgeschichte aber nur am Rande behandelt, zumal er sich ausschließlich auf MfS-Akten stützt und Dokumente der APW gar nicht heranzieht. Dass der Autor von theoretischen Konstrukten überdies nicht viel hält, erfährt man leider erst im Resümee. Er sieht diese als "äußerliche[n], fremde[n], künstliche[n] Lichtquelle[n]" (359), die die Sicht des Forschers eher behindern. Nun ist Wiegmann mit Blick auf andere Arbeiten, deren minutiöse Theoriekapitel die empirischen Erträge nur bedingt rechtfertigen, durchaus in Teilen rechtzugeben. Daraus aber gewissermaßen abzuleiten, dass die Wahrheit in den Quellen liegt, ist ein Zirkelschluss. Dabei macht Wiegmann in der Einleitung deutlich, dass kritische Distanz geboten ist, um jedoch gleich daran anzuschließen, dass man gegen die Vereinnahmung des Forschers durch die Quelle nichts tun könne. Das Fehlen einer gründlichen Quellenkritik hat indes zur Folge, dass Wiegmann die Aussagekraft seines Materials überstrapaziert. Das methodische Vorgehen des Autors erschließt sich dann erst beim Lesen. Seite für Seite fasst er jede einzelne IM-Akte zusammen und kommentiert sie mit spitzen Bemerkungen, die häufig Allgemeinplätze sowie persönliche Reminiszenzen enthalten und ein einfaches Gut-Böse-Schema reproduzieren.
Wiegmann mutet dem Leser viel zu: zum einen, weil er ausgiebig aus den Akten zitiert, eingestreute Informationen zur Forschungstätigkeit der IMs in der APW aber nicht näher erläutert. Hier muss der Leser ein gehöriges Vorwissen mitbringen. Zum anderen legen dem Autor die strengen Datenschutzbestimmungen der BStU erhebliche Beschränkungen auf. Die IMs werden nur unter ihren Decknamen genannt, Einblicke in ihre Arbeitsbereiche in der APW erhält man nur in homöopathischen Dosierungen. Das bringt mit sich, dass der Leser, sofern er nicht selbst in der APW gearbeitet hat, vor lauter "Hermann Fischers", "Otto Löschers", "Sofies", "Thoma (I)" und "Thoma (II)" den Überblick verliert, zumal sich die Geschichten - was angesichts der methodischen Vorgehensweise und der Datenschutzbestimmungen nicht verwundert - sehr ähneln. Elementare Informationen, die in einem strukturgeschichtlichen Einführungskapitel besser aufgehoben gewesen wären, kann man sich nur aus dem Text herauspicken. So muss der Leser erst bis Seite 133 durchdringen, um zu einem interessanten Kapitel über die Datengrundlage Wiegmanns vorzustoßen (aus dem Inhaltsverzeichnis erschließt sich dies leider nicht). Hier erfährt man denn erst, dass von 702 Mitarbeitern (Stand: 1980er Jahre) fast 15 Prozent für die Stasi tätig waren; die meisten der Spitzel waren Männer. Von IMs durchtränkt waren vor allem das Institut für Unterrichtsmittel (13 IM), die Arbeitsstelle für Auslandspädagogik (9 IM) und das Institut für Erziehung (8 IM). Und erst auf Seite 194 erfährt man, was die Stasi an der APW eigentlich interessierte. Das sei weniger die Bedrohung "von außen" gewesen, obwohl der Kontakt mit Wissenschaftlern aus der Bundesrepublik zum Alltag gehörte, sondern vielmehr die Gefahr, die von den Intellektuellen selbst ausging. Diese freilich nicht gänzlich überraschenden Befunde lässt Wiegmann leider stehen, ohne sie einer näheren Betrachtung zu unterziehen. Auch die Bemerkungen zur "Kontrolldichte" des MfS, die erst seit dem Mauerbau signifikant und besonders in den letzten Jahren vor dem Mauerfall noch einmal stark zunahm, gehen in den erdrückenden Einzelbiographien unter.
Die einzelnen IM-Biographien lesen sich dann eher mühsam, was durch die zahlreichen Tippfehler noch verstärkt wird. Auch ist der Autor offenkundig dem sprachlichen Duktus der MfS-Akten verfallen, was zuweilen Stilblüten mit sich bringt. Hier ein Beispiel aus der Biographie "Ottos": "Speziell schöpfte ihn die Stasi 1978/79 zum Direktor des Instituts für Erziehung ab." (172). Man kann sich fast glücklich schätzen, dass der Autor in seiner Akribie auch amüsante Nebenschauplätze nacherzählt. So erörterte etwa die Stasi im Falle des habilitierten "Julius" die Frage, ob der im Haushalt lebende Dackel ein Hindernis für die Nutzung der Räumlichkeiten als "konspirative Wohnung" darstelle (235). Auch widmet sich der Autor mit Hingabe familiengeschichtlichen Analysen über die Wahl der Decknamen, was jedoch wenig Sinn macht, wenn die Klarnamen nicht genannt werden. Forschungsrelevantere Fragen wie die nach dem Einfluss des MfS auf Berufungsentscheidungen stellt Wiegmann zwar, er gibt aber an, diese auf Grundlage der Quellen nicht beantworten zu können. Stutzig macht ihn dies indes nicht. Dabei war der Quellenwert von MfS-Akten in den letzten Jahren immer wieder Gegenstand einschlägiger Debatten, die auch dazu beigetragen haben, den Mythos der allmächtigen Stasi zu entzaubern. Wiegmann scheint davon völlig unbeeindruckt. Vielmehr pflegt er diesen Mythos noch dadurch, dass er sich auf ungewöhnliche Kronzeugen beruft. So interpretiert er die Werbetätigkeit der Staatssicherheit an einer Stelle mit einem Verweis auf Hitlers "Mein Kampf" (19), was an dieser Stelle doch eher befremdlich wirkt. Zwar soll die Bedeutung der Stasi nicht kleingeredet werden, die ein zentrales Element der Herrschaftsdurchsetzung der SED war. Genau deshalb aber bedarf es weniger polemischer, sondern vielmehr methodisch reflektierter Untersuchungen, die das MfS in den Gesamtkontext der Gesellschaftsgeschichte der DDR einordnen.
Was bleibt von Wiegmanns Studie? Der sicherlich interessanteste Teil ist das Statistik-Kapitel über Zahl und Arbeitsbereiche der IMs sowie die sich anschließenden, jedoch nicht über Feststellungen hinausgehenden kollektivbiographischen Betrachtungen. Hier hätte man jedoch gern mehr über den Stellenwert der Personen und Institute innerhalb der APW erfahren. Solche weitere Forschungen anregenden Befunde gehen im Gesamtkontext der Studie leider unter und werden durch das wenig hilfreiche Resümee noch zusätzlich geschmälert. Dort erörtert Wiegmann unter Bezugnahme auf die höchst unterschiedlichen Motivlagen, die Wissenschaftler zu IMs werden ließen, und Hannah Arendts bekannte These von der "Banalität des Bösen" lediglich die Frage, wie "böse" die IMs gehandelt haben, um dann zu dem Schluss zu kommen, dass sie mit der Boshaftigkeit von Kinderschändern, Völkermördern und Steuerhinterziehern nicht annähernd verglichen werden können. Auf einen Kommentar zum Erkenntnisgewinn eines solchen Vergleichs verzichtet der Rezensent. Wiegmann bietet am Ende eine methodisch enggeführte, Stasi-zentrierte Darstellung, die nur bedingt zum Erkenntnisgewinn beiträgt, sich aber vielleicht mit Gewinn als Quelle eines ehemaligen APW-Mitarbeiters, der noch heute am Nachfolginstitut (Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung) tätig ist, lesen lässt und Aufschluss darüber gibt, wie dieser sich mit einem wesentlichen Teil seiner beruflichen Vergangenheit auseinandersetzt. Um mögliche Zweifel auszuräumen: Wiegmann selbst hat nicht für das MfS spioniert.
Anmerkung:
[1] https://www.youtube.com/watch?v=89R14oAjCDY&feature=youtu.be, Min. 6:27.
Christian Rau