Steven Vanderputten: Imagining Religious Leadership in the Middle Ages. Richard of Saint-Vanne and the Politics of Reform, Ithaca / London: Cornell University Press 2015, XIII + 244 S., 9 s/w-Abb., ISBN 978-0-8014-5377-9, USD 49,95
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Nach seiner 2013 erschienenen Monographie "Monastic Reform as Process" über das Klosterwesen in Flandern lässt Vanderputten hier eine zweite folgen, die sich dem Klosterreformer Richard von Saint-Vanne widmet und sich als Dekonstruktion der mediävistischen Klosterreformforschung versteht. Am Beispiel dieses Abtes möchte er nämlich exemplarisch den Mythos um die religiöse Führerschaft der Reformer untersuchen und macht von vornherein klar, dass nachträgliche Verklärung und zeitgenössische Wirksamkeit keineswegs übereinstimmen, da sich Richards vordergründig klare Biographie als höchst lückenhaft erweist.
Ausgangspunkt bildet entsprechend das Bild Richards in der mittelalterlichen und in der modernen Historiographie (Kapitel 1). Die frühen Zeugnisse betonen Richards Frömmigkeit, bieten aber kein zusammenhängendes Bild, das erst Hugo von Flavigny liefert, der die Autorität des Abtes und dessen moralische Integrität hervorhebt. Dem schließt sich bald eine Verklärung und Wertschätzung an. Ende des 19. Jahrhunderts begann mit Ladewig und Sackur die Einbettung in die monastischen Bewegungen, mit Hallinger die Inanspruchnahme Richards für die Gorzer Reform, mit der Kritik daran bekanntlich die Auflösung der Einheitlichkeit der Reformbewegungen. Zweifel an der engen Verflechtung hatte 1946 bereits Dauphin geäußert.
Der Kluft zwischen zeitgenössischem Bild und späterer Verklärung zum charismatischen Reformführer stellt Vanderputten nun eine Art "total history of Richard" entgegen und beginnt im zweiten Kapitel mit einem Kernaspekt: Richards Selbstverständnis. Unter der Überschrift "Ecclesiastical Office, Religious Virtuosity and the Apostolic Imperative" fragt er anhand der zeitgenössischen Quellen nach Richards Selbstverständnis, das sich von vornherein weniger auf das Mönchtum als vielmehr auf den Kirchenführer bezog. In (vermutlich) Richards 'Vita Rodingi' sieht er eine Art Selbstspiegelung des Autors. Im Kontext der imitatio Christi steht auch die Jerusalemfahrt, und die peregrinatio des "itinerant abbot" dient seiner auf die ganze Reformbewegung bezogenen Mission zur Bekehrung. Freilich kann Vanderputten sich bei diesem neuen Bild Richards nur auf dieselben, bekannten Quellen stützen und muss deren Glaubwürdigkeit voraussetzen.
"Imagining Saint-Vanne" (Kapitel 3) beschreibt den Weg der Abtei von einem Bischofskloster zur dynastischen Metropole (mehrerer Geschlechter) und stellt heraus, dass die Quellen keinerlei Kritik an den vorhergehenden Zuständen erkennen lassen und auch keinen grundlegenden Wandel unter Richard betonen: Dieser, so das Ergebnis, hat das Kloster nicht reformiert, sondern ihm eine neue institutionelle Identität gegeben, indem er, in Auswertung der Schrift zum Fest des Heiligen, dessen Bedeutung für Verdun betont, das Kloster aber auch vom bischöflichen Einfluss abgegrenzt hat. Chartular und Urbar des Klosters lassen darüber hinaus Richards Verbindungen zu den großen Laienschenkern wie auch eine Fragmentierung des Konventsgutes erkennen.
Kapitel 4 rückt Richards Rolle als "Founder and Head of Many Monasteries" zurecht, als den ihn der 'Liber vitae' aus St. Vanne beschreibt: Zwar ist Richard in verschiedenen Klöstern tätig gewesen, aber zweifelhafte Hinweise und mangelnde Belege, vorschnelle Schlüsse allein aus seinem Ruf als Reformer sowie seine Aktivitäten, die anderen Belangen als der Reform dienen, warnen auch hier zur Vorsicht. Hinweise für ein zusammenhängendes Reformprogramm in den einzelnen Klöstern fehlen jedenfalls. Kapitel 5 geht schließlich kritisch mit einer Tätigkeit Richards um, die "Converting the World" beinhaltet, und bestätigt zwar, dass Richard die 'Bekehrung' der Laien ein ernstes Anliegen war, dessen Konkretisierung zum einen jedoch keineswegs frei von sozialen Kontexten und politischen Verbundenheiten erscheint, dass er zum anderen im Kult um den leidenden Christus aber auch neue Wege der christlichen Spiritualität einschlug. (Letzteres ist entgegen verbreiteter Ansicht allerdings keine Neuerung.)
Vanderputten nimmt dem gängigen Bild Richards zentrale Elemente und fügt dafür andere hinzu. Insgesamt wird, wie am Schluss noch einmal herausgestellt wird, dem älteren Bild Richards als "Reformapostel" und der jüngeren Dekonstruktion und Marginalisierung seiner Gestalt eine Sicht entgegengestellt, welche die Rolle eines institutionalisierten Mönchtums in Richards Wirken eher gering einschätzt und dessen Ziele mehr in einer "Konversion" als in der Reform erblickt. Es erfolgte im Rahmen der soziopolitischen Realitäten seiner Zeit und resultierte, nicht ohne "egotistische" Tendenzen, aus Wort und Beispiel. Sechs ebenso ausführliche wie nützliche Anhänge bieten eine Zeittafel zu Richards Leben, einen Abdruck der Vita Rodingi samt Übersetzung, einen Essay über Richards Buchanschaffungen in St. Vanne, darunter kein einziges Werk der Reformliteratur, sowie Tabellen über seine Abteien, Priorate und Nachfolger.
Mit seiner sehr kritischen Richard-"Biographie" hat Vanderputten ein ambitioniertes Buch vorgelegt, das den Forschungsstand erheblich zurechtrückt und sicher Diskussionen auslösen wird. Dabei ist manches ex silentio aus dem Schweigen zeitgenössischer Quellen über vertraute Zuschreibungen erschlossen (und damit wiederum nicht eindeutig bewiesen), anderes eher aus den Schriften als aus dem Handeln Richards gefolgert. Möglicherweise wäre aber auch in Betracht zu ziehen, dass man Richards führende Rolle erst später erkannt (oder auch zu bestimmten Zwecken stilisiert) hat; das wäre ja beileibe nicht der einzige Fall. Vor allem aber wird man fragen dürfen, ob man zwischen den Zielen der Klosterreformen und deren organisatorischer Verwirklichung - denn letzteres wird hier nicht bestritten - tatsächlich strikt trennen darf. Dass sich die Reformen in breite gesellschaftliche Belange, auch der adligen Klosterherren selbst, einordnen, ist ja seit langem bekannt. Vanderputtens Kritik muss deshalb nicht das allerletzte Wort bleiben. Anregend bleibt sie allemal.
Hans-Werner Goetz